piwik no script img

Kubanischer Künstler über Proteste„Kuba droht ein Bürgerkrieg“

Der Protest markiert eine Zäsur, sagt Michel Matos von der Künstler-Protestbewegung San Isidro. Dem Präsidenten wirft er Verbrechen vor.

Die Polizei verhaftet einen regierungskritischen Demonstranten während einer Demonstration in Havanna Foto: Ramon Espinosa/ap
Interview von Knut Henkel

taz: Herr Matos, Kuba erlebt gerade die massivsten Proteste seit der Revolution von 1959. Markieren sie den Auftakt für einen grundlegenden Wandel auf der Insel der Revolution?

Michel Matos: Der 11. Juli wird als Wendepunkt in Kubas Geschichte eingehen – ich hoffe, in Richtung Reformen. Die sozialen Proteste der Vergangenheit lassen sich in Kuba an einer Hand abzählen. 1994 hat es den Maleconazo gegeben, eine Spontandemonstration an Havannas Uferpromenade, dem Malecón. Der Protest richtete sich gegen Stromabschaltungen, Lebensmittelknappheit und Versorgungsengpässe. Dabei wurden auch Supermärkte ausgeräumt. Damals ging Fidel Castro auf die Straße und stellte sich dem Dialog mit den Protestierenden – unter den Augen von Sondereinsatzkommandos. Heute ist das anders: Präsident Miguel Díaz-Canel hat nicht den Kontakt mit den Protestierenden gesucht – und es sind nicht hunderte, sondern viele, viele tausend Ku­ba­ne­r*in­nen auf die Straße gegangen. Die Bevölkerung hat die Angst vor der staatlichen Repression und Kontrolle verloren.

Ist die Rückkehr der Stromabschaltungen, der apagones, ein Katalysator für die Proteste?

Sie sind ein Faktor, aber nicht der einzige. Der latente Lebensmittelmangel, die leeren Regale in Apotheken und Kliniken, steigende Preise, die Einrichtung von Devisen-Supermärkten sowie die staatliche Repression sind weitere Faktoren. Wichtig ist: dieser Protest hat keine Führung, keine Organisationen dahinter, die die Demonstrationen koordinieren – sie sind spontan. Die Tatsache, dass die ersten Proteste in San Antonio de los Baños, einer Kleinstadt im Großraum Havanna, begannen, bestätigt das. Die Bilder der dortigen Demonstration fluteten die sozialen Netze und sie sorgten dafür, dass viele Tausend Ku­ba­ne­r*in­nen spontan auf die Straße gingen. Nicht nur in Havanna, sondern inselweit, und die Botschaft ist klar: Wir wollen diese Regierung nicht.

Im Interview: Michel Matos

40, Dokumentarfilmer, ist Mitgründer des Movimiento San Isidro. Das hat sich 2018 gegründet, um gegen die Regulierung des Kunstbetriebs in Kuba zu protestieren. Er gehört auch der Künst­le­r*in­nen­grup­pe 27 N an, die im November 2020 in den Dialog mit den Verantwortlichen der Kultur­politik trat. Nach dem Treffen wurden viele der 27-N-Mitglieder jedoch kriminalisiert, unter Hausarrest gestellt und vom Internetzugang getrennt.

Die Antwort von Präsident Miguel Díaz-Canel kam prompt …

Ja, und sie ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sein Befehl, zur Verteidigung der Revolution zum Kampf auf der Straße überzugehen, ist verheerend. Es kursieren Bilder und Videos von Polizisten und Spezialeinheiten, die auf Ku­ba­ne­r*in­nen schießen. Gezielt, ich rede nicht von Warnschüssen. Ärzte auf sozialen Medien bestätigen, dass Schwerverletzte mit Schussverletzungen in Krankenhäuser eingeliefert wurden. So etwas hat es in Kuba seit der Diktatur von Fulgencio Batista nicht mehr gegeben. Das kubanische Regime mutiert zur Tyrannei.

Allerdings gibt es auch Bilder von umgestürzten Polizeiwagen …

Was seit den Massendemonstrationen geschah

Der Protest Am Sonntag hatten Tausende Kubaner in zahlreichen Städten für Freiheit, gegen Unterdrückung und Mangelwirtschaft demonstriert.

Die Reaktion Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel rief am Sonntag dazu auf, die Revolution – sprich: das sozialistische System – auf den Straßen zu verteidigen.

Festnahmen Bis Mittwoch sind nach Angaben unabhängiger Journalisten des Onlineportals 14ymedio mehr als 5.000 Menschen festgenommen worden.

Zugeständnis Díaz-Canel hat am Mittwoch Mitverantwortung der Regierung für die Proteste eingeräumt. Der Umgang mit Versorgungsengpässen und anderen Problemen habe dazu beigetragen. Er kündigte Zollerleichterungen an, damit knappe Güter wie Medikamente leichter eingeführt werden können. (dpa, epd)

Ja, aber die Proteste begannen friedlich. Erst durch das Vorgehen der Sicherheitsbehörden, die Festnahmen, die Gewalt, hat sich das gedreht. Was sind Steine gegen Pistolen, Gewehre und automatische Waffen? Die kubanische Regierung, die noch vor wenigen Wochen die sozialen Proteste in Kolumbien und Chile begrüßt hat, behauptet, dass die gleichen Proteste im eigenen Land von den USA gesteuert würden, und diffamiert die Protestierenden als Verbrecher. Diese Ignoranz wird in Kubas Geschichte eingehen. Fortan gibt es ein Vorher und ein Nachher – der 11. Juli ist eine historische Zäsur. Auf der einen Seite hat die Bevölkerung ihre Angst verloren, auf der anderen Seite zeigt die revolutionäre Regierung ihr zynisches und brutales Gesicht.

Miguel Díaz-Canel galt bei seinem Amtsantritt im April 2018 vielen Ku­ba­ne­r*in­nen als Mann des Dialogs. Hatten Sie auch die Hoffnung, dass sich in Kuba etwas ändern würde mit dem neuen Mann an der Spitze?

Ja, ich gehörte auch zu denjenigen, die Hoffnung hatten, dass es einen Dia­log mit der Zivilgesellschaft geben könnte, um Reformen einzuleiten. Heute ist das vorbei, für mich ist die derzeitige Regierung eine Diktatur. Das war vor wenigen Monaten noch anders. Am 27. November 2020 wurden rund dreißig Künstler und Künst­le­r*in­nen ins Kulturministerium eingelassen, um zu diskutieren – über die zunehmende Repression, über mehr Freiräume für die Kultur. Es war durchaus fruchtbar und weckte Hoffnungen. Aber eben nur für wenige Stunden. Dann wurde uns brutal vor Augen geführt, dass es diesen Willen zum Dialog auf der anderen Seite nicht gab. Für mich ist seitdem glasklar, dass es die alte militärische Elite um Raúl Castro ist, die die Macht in den Händen hält. Miguel Díaz-Canel ist eine Art Verwalter, der Geschäftsführer, aber über wirkliche Macht verfügt er nicht. Ich bin mir sicher, dass die Militärs, die Comandantes und Generäle von sechzig, siebzig und mehr als achtzig Jahren letztlich in Kuba den Ton angeben. Sie haben paramilitärische Strukturen aufgebaut – das ist ein weiteres Verbrechen gegen die Menschlichkeit, denn auch die Schlägertrupps gehören zur kubanischen Realität. Kuba droht ein Bürgerkrieg, und die Verantwortung dafür trägt die alte Garde hinter Miguel Díaz Canel.

Die internationale Aufmerksamkeit ist groß. Menschenrechtsorganisationen, auch die UN, Washington und Berlin haben an die Regierung in Havanna appelliert. Bisher ohne Erfolg – was für Folgen könnte das haben?

Ich hoffe, dass die Verantwortlichen sich vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten müssen. Es gibt Experten, die Beweise sammeln, eine Klage vorbereiten. Ein Präsident, der behauptet, dass die Eskalation der Gewalt habe passieren müssen, ist untragbar. Das Regime wird sich nicht halten können. Die kubanische Revolution hat ihre letzte Glaubwürdigkeit verloren.

Sie gehören dem Movimiento San Isidro an, einer 2018 entstanden Künst­le­r*in­nen­gruppe, die gegen das Gesetz 349 und die Regulierung der Kunst entstanden ist. Wie viele der rund zwanzig Mitglieder wurden festgenommen?

Alle, mit Ausnahme von mir, weil ich gerade Familienangehörige in Italien besuche. Die ersten wurden aus der Haft entlassen, stehen aber wie der Dichter Amaury Pacheco unter Hausarrest. Ein Soldat steht vor seiner Haustür und lässt ihn nicht passieren. Luis Manuel Alcántara, eines der Gesichter unseres Protest, befindet sich nach wie vor in Haft. Ich halte es für wahrscheinlich, dass er nicht freikommt, weil er viele Menschen mobilisieren kann und das auch wiederholt getan hat. Ich habe den Eindruck, dass die Behörden wirklich alle, die sich engagiert haben für Reformen in Kuba, festgenommen haben. Das zeigt, dass die Behörden nicht wissen, wie sie mit den Protesten umgehen sollen.

Glauben Sie, dass die Regierung einlenken und den Dialog suchen wird?

Nein, ich denke, dass das nicht passieren wird, bevor Raúl Castro stirbt. Die Tatsache, dass Miguel Díaz-Canel zum Kampf aufgerufen hat, ist de facto der Aufruf zum Bürgerkrieg – das ist ein Verbrechen. Ich kann mir derzeit nicht vorstellen, dass er eine Rolle rückwärts machen wird, und auch stellt sich die Frage, wer ihm dann noch glauben wird. Auch die Ankündigung von Zoll­er­leich­te­rungen für Nahrungsmittel und Medikamente ist nicht mehr als ein Trostpflaster. Zum einen reisen derzeit kaum Menschen nach Kuba ein, zum anderen ist das nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Der Bedarf ist immens, und die Corona-Infektionszahlen könnten sich durch die Proteste noch einmal sprunghaft erhöhen.

Sehen Sie einen Ausweg aus dieser massiven politischen Krise? Wie lässt sich ein Bürgerkrieg und der sich abzeichnende Konflikt unter Ku­ba­ne­r*in­nen abwenden?

Im Vorfeld des Treffens mit dem Vizekulturminister Fernando Rojas im November 2020 haben wir vom Movimiento San Isidro mit anderen Künst­le­r*in­nen und Intellektuellen an einem Konzept für den Dialog und eine kubanische Transition gearbeitet. Es hängt fast alles vom politischen Willen der Verantwortlichen ab. Sie müssen entscheiden, ob sie die Zukunft Kubas gemeinsam mit der Zivilbevölkerung und den 3 Millionen im Ausland lebenden Ku­ba­ne­r*in­nen gestalten wollen. Dazu gehört aber auch eine offizielle Entschuldigung der Regierung und so etwas wie eine Wahrheitskommission wie in Südafrika als Grundlage für einen Prozess der Versöhnung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

14 Kommentare

 / 
  • @Paula, Moderatorin



    Nach meinen Spanischkenntnissen ist das (die Rede von Diaz-Canel) ein Aufruf, sich gegen Provokateure zu stellen. Und der etwas pathetische Schwur, dass sie (die Provokateure) über Leichen der Verteidiger der 'Revolution' gehen müssen, um die Regierung zu stürzen.



    Einen eindeutigen Aufruf zur Gewalt würde ich keinesfalls interpretieren.



    Das haben auch die Regierungssympathisanten weder so verstanden noch praktiziert.



    Die Repression des kubanischen Staates ist unbestritten.



    Es gab indes schließlich auch Plünderungen und Angriffe auf Polizeistationen.



    Medien, die hier (wo wirklich viel auf dem Spiel steht) nicht streng sachlich und kritisch in jeder Blickrichtung berichten, unterstützen mE leider die Politik der USA gegen die überwiegende Mehrheit der Menschen in Kuba.



    Wer den klar suboptimalen Regierungsapparat dort stürzen will, muss wissen, wie es weitergehen soll. Andernfalls droht eine Entwicklung wie in Libyen oder eine erneute Invasion durch die USA.



    Es geht auf Kuba nicht um Probleme in der Größenordnung von Hausbesetzungen oder Querdenkerdemos. Es geht um das existenzielle Schicksal der Menschen eines Landes und der Tatsache sollte die Berichterstattung mit höchstem qualitativen Maßstab gerecht werden.

    • @Jossito:

      genau, ich habe etwas ausfühlricher unten dazu geantwortet

  • Schutz für bedrohte Diktaturen ist gefragt. Wo kämen wir denn da hin, wenn das Volk sich einfach eine neue Regierung wählen könnte? Um dies zu verhindern gibt es doch Diktaturen. Freie Meinung, freie Presse, Versammlungsfreiheit, Demokratie und Rechtsstaat brauchen doch nur jene, die mit einer Diktatur nicht einverstanden sind. Warum sollte man Menschen frei wählen und über ihr Schicksal entscheiden lassen, wenn die perfekte Lösung doch schon gefunden ist? Gerade in Kuba könnten freie Wahlen dazu führen, dass es den Menschen noch schlechter geht. Diktatur bietet den Bürgern (Genossen?) hingegen eine verlässliche Perspektive. Nur dort gibt es die Sicherheit, dass die Regierung von heute auch die von morgen und die von morgen auch die von übermorgen ist. Mehr Stabilität geht doch gar nicht.



    Warum sollte man auf ein paar Unzufriedene Rücksicht nehmen? Die Menschen wollen doch in ihrer Mehrheit nichts anderes. Das kennen sie. Das brauchen sie. Mehr Stabilität geht doch gar nicht. Und je niedriger das Wohlstandsniveau, desto besser für die Umwelt. Von lernen, heisst Siegen lernen!

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Wenn die USA endlich ihre Wirtschaftssanktionen aufheben würde, käme es nicht zu Ausschreitungen geschweige denn Bürgerkrieg.



    Wer hat da seine Finger im Spiel? Wem nutzt das?

    • @17900 (Profil gelöscht):

      Verehrter Mr. Nice

      Was sollen denn eingeschränkten Handelsbeziehungen mit nur einem Land mit den Ausschreitungen zu tun haben?

      Auch ohne die idiotischen US-Sanktionen wäre die Misere doch dieselbe: Politische Gefangene, keine Meinungsfreiheit, keine Pressefreiheit, keine freien Gewerkschaften, keine Reisefreiheit, kein Rechtsstaat.

      Die blöden Sanktionen der USA sind ein Gottesgeschenk für das Regime; erstaunlich ist nur, dass so viele darauf hereinfallen.

      Kuba ist überhaupt nicht auf den Handel mit den USA angewiesen.

      Die USA sind trotz des Embargos der viertgrößte Exporteur von Waren nach Kuba (hinter Venezuela, China und Spanien).

      Größte Handelspartner beim Export von Waren aus Kuba sind China, Kanada, Spanien und die Niederlande.

      Selbst Raúl Castro erklärt in der Nationalversammlung, dass die Probleme der Wirtschaft hausgemacht sind.

      Kuba kann alle Waren, die es nicht selbst produziert, in jedem Land der Welt einkaufen. Das ist auch die Realität. Warum sollten die eingeschränkten Handelsbeziehungen zu den USA ein Problem sein, wenn Lieferanten aus allen anderen Ländern der Welt ihre Waren gerne nach Kuba verkaufen?

      Das Regime wird nicht allein deshalb auf die Repression verzichten, weil ein weiterer Wettbewerber seine Waren anbietet (nach einer Normalisierung der Handelsbeziehungen). Ob Kuba Waren aus den USA oder von einem der Abertausenden Lieferanten aus einem x-beliebigen Land bezieht, hat keine Auswirkung auf die Repression.

      Dem Regime würde ein Ende des "Embargos" nicht gefallen; sie müssten sich eine neue Ausrede für die Misere suchen.

      • @Crawler:

        Welche Komponente der wirtschaftlichen Einflussgrößen sich in welchem Umfang auswirkt, ist schwer nachzuweisen und bleibt natürlich frei für beliebige subjektive Deutungen.

        ... ‚Auch ohne die idiotischen US-Sanktionen wäre die Misere doch dieselbe: Politische Gefangene, keine Meinungsfreiheit, keine Pressefreiheit, keine freien Gewerkschaften, keine Reisefreiheit, kein Rechtsstaat.‘ ...

        Die Misere wäre nicht dieselbe, weil die Versorgungslage besser wäre, aber die Einschränkungen der demokratischen Kultur würden allein durch die Embargo-Aufhebung nicht verschwinden. Das stimmt. Wenn diese Gründe jedoch maßgeblich wären, müssten die USA auch Embargos gegen China, Russland, Saudi Arabien und viele andere Staaten verhängen.



        Warum indes nur gegen Kuba?

        • @Jossito:

          Verehrte/r Joss

          Besten Dank für Ihre Überlegungen!

          Sie schreiben, die Misere wäre ohne das (stark lückenhafte) Unsinns-Embargo der USA „nicht dieselbe“, weil die Versorgungslage dann „besser“ wäre. Das kann, so meine ich, nicht sein: Die Versorgungslage ist ja nicht wegen des Embargos schlecht. Kuba hat sehr aktive Handelsbeziehungen in aller Herren Länder. Kuba hat aber keine Geld; das ist im Sozialismus (ohne Rohstoffe) nun mal so. Es gibt schlicht NICHTS, was Kuba (oder Kubaner) nur in den USA kaufen könnten. Es gibt ALLES, was sich für Geld kaufen lässt, auch bei Herstellern und Lieferanten aus ALLEN anderen Ländern, mit denen Kuba auch regen Handel treibt, insb China, Korea (Nord und Süd), Kanada, Spanien, ganz Südamerika etc. Das Unsinns-Embargo hat Null Einfluss auf die Versorgungslage. Schlecht ist die Versorgungslage für den Großteil der „normalen“ Bevölkerung, weil es viele lebensnotwendige oder besonders begehrte Waren nur in Läden für die Apparatschiks gibt, die mit US-Dollar zahlen können, DDR und Nord-Korea lassen grüßen. Schlecht ist die Versorgungslage in Kuba, weil es das Regime der Bevölkerung nicht ermöglicht, ein Einkommen und ein Warenangebot zu erwirtschaften, mit denen die Grundbedürfnisse befriedigt werden könnten. Mit dem überholten Embargo hat das nichts zu tun.

          Sie fragen, warum die USA „indes nur gegen Kuba“ Sanktionen ausgesprochen haben. Auch das ist nicht richtig. Sanktionen der USA gibt es auch (wie Sie es fordern „ … müssten die USA auch …“) gegen andere Lausbuben und Folterknechte wie Iran, Nord Korea, Syrien, Venezuela, Türkei etc en.wikipedia.org/w...d_States_sanctions - Man mag über den Sinn und die Effektivität von Sanktionen unter Staaten unterschiedlicher Auffassung sein. Als milderes Mittel im Vergleich zum Krieg sind sie ok. Und auch das Regime in Kuba freut sich darüber: Die Sanktionen haben keinerlei Auswirkung und sind doch die ideale Scheinerklärung für die selbst verschuldete Misere. Win:Win

          • @Crawler:

            Hallo Crawler, danke für den Dialog.



            Das Embargo schließt sehr viele Schikanen ein, wozu die unterdrückten Geldüberweisungen, die Blockade der Kreuzfahrtschiffe, die Sanktionen im Zusammenhang mit Handelsverboten etc etc gehören.



            Etwa 25% der Kubaner, eben nicht nur Apparatschiks, bekommen Geld von Angehörigen oder Freunden im Ausland. Dies können sie in den MLC-Läden (die für alle offen sind) ausgeben. Mit diesen Devisen kauft der Staat auf dem Weltmarkt ein, soweit möglich.



            Wenn Sie mal versucht haben, einfach nur Lebensmittel nach Kuba zu schicken, kennen Sie die Hürden.



            Die Sanktionen (auch die indirekten, s. Bolsonaro) treffen Kuba viel härter, als zB Russland oder China. Kuba kann eben nicht beliebig handeln, weil viele potentielle Partner die Strafen der USA fürchten.



            Staaten wie Iran, Nord-Korea, Syrien, Türkei und Venezuela mit Kuba in einen Topf zu werfen und ihre Sanktionierung durch die USA mit Kuba zu vergleichen, halte ich für realitätsfremd.



            Ich habe bis zur Pandemie längere auf Kuba unter Kubanern und auch mit Dissidenten gelebt. Das Embargo bzw die Sanktionen sind ein Teil der Misere, aber ein wirkungsvoller. Das habe ich bereits betont.



            Ich plädiere hier für eine unideologische, sachliche und faktenorientierte Sicht.



            Leider wird in den deutschen Medien selten differenziert über Kuba berichtet, besonders aktuell, wo die Aufregung der Proteste sich gelegt hat und manche Verzerrungen aufgedeckt wurden.



            Recht gute und nicht-tendenziöse Informationen über Kuba kann man hier finden



            cubaheute.de

      • @Crawler:

        ... ‚Was sollen denn ... mit nur einem Land mit den Ausschreitungen zu tun haben?‘ ...



        Faktisch falsch. Die US-Sanktionen betreffen auch alle Staaten (China, Russland, Iran, Vietnam etc haben Sonderstatus in dieser Frage), die mit Kuba Handel und Zahlungsverkehr treiben. Einige Großbanken ( zB Parisbas 8,8 Mrd Dollar www.dw.com/de/groß...-in-usa/a-17748089 ) haben bereits Strafzahlungen an die USA leisten müssen, weil sie das US-Finanzembargo verletzt haben. Auch die EU-Staaten und viele anderen Länder sind davon betroffen. Der Dollar-Zahlungsverkehr und das Swift-System werden von den USA kontrolliert.



        Die Embargoregeln sind zu komplex, um sie hier darzustellen. Man kann nachlesen bei



        exportmanager-onli...uba-embargo-14560/



        Die (quantitativ minimale) Einfuhr von Waren aus den USA ist auf wenige Lebensmittel und Medikamente begrenzt und läuft über spezielle Wege (teilweise semilegal) zB über Mexico und Panama. Teilweise über eine Sonderhandelszone.



        Kuba würde gerne mehr einführen, wenn es die Devisen dazu hätte. Durch den fast vollständigen Einbruch des Tourismus, durch die Pandemie, die Währungsreform und durch den Rückgang der Einnahmen aus der Entsendung von Ärzten ist Kubas Finanzhaushalt aktuell praktisch zusammengebrochen.



        Die kubanische Regierung hat zugegeben, dass die Versorgungsmisere auch durch politische Fehler verursacht ist. Es gibt tatsächlich Misswirtschaft, Desorganisation und Korruption. Weniger, als in den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern, aber genug, um sich massiv auszuwirken. Dagegen arbeitet Kuba nach Kräften und nicht nur erfolgreich.



        Die drei aktuell entscheidenden Einflussgrößen für die jetzige miese materielle Situation in Kuba sind: das ineffiziente und ideologisch verkrustete Wirtschaftssystem, das Embargo der USA und der Einbruch der Einnahmen aus dem Tourismus.

    • @17900 (Profil gelöscht):

      Wahrscheinlich nicht. Die Situation würde dadurch nicht gut werden, aber deutlich besser für die Bevölkerung. Das (in den westlichen Medien oft relativierte und damit verharmloste) Embargo ist mindestens einer der wichtigsten Gründe für die Versorgungsmisere.



      An der durch Diaz-Canel intensiv bekämpften, aber immer noch schlimmen kubanischen Misswirtschaft, Korruption und Desorganisation würde sich indes allein durch die Embargo-Aufhebung nichts ändern.



      Dass die alten politischen Kader Verbesserungen und auch der Intention von Diaz-Canel im Wege stehen, sehe ich genauso wie Michel Matos. Allerdings ist das Bewusstsein der Mehrheit der erwachsenen Kubaner von 62 Jahren Isolation und realer Bedrohung (Schweinebucht-Invasion, unzählbare Sabotage und Versuche der Destabilisierung) durch die USA bereits vor der Internet-Ära geprägt. Auch und gerade in Institutionen und wirtschaftlichen Strukturen. Das kann man ebenso wenig mal eben ändern wie zB die politische Mentalität vieler Menschen in den neuen deutschen Bundesländern.



      Viele Ausführungen von Michel Matos kommen mir tendenziös und fragwürdig vor. Und manchmal wirken sie auf mich, als würde man die politische Auffassung der Bewohner der Rigaer Straße 94 in Berlin zur Bewertung der Wohnungslage als einzig gültige darstellen.

  • liebe taz. ich habe versucht, mir videos aus kuba im netz anzugucken, finde aber nur steine werfende demonstrant*innen, die teilweise brutal auf polizisten, die unbewaffnet sind losgegangen sind. Wenn es Polizeigewalt gegeben hat, ist das selbstverstäbdlich zu kritisieren und offen anzusprechen. Allerdings sprechen alle cubanischen Offiziellen von Dialog und fordern offen zu reden, zum Bsp. beim mesa redonda. Auf der anderen Seite wurde in den sozialen Medien (und wird auch noch aktuell) Falschmeldungen verbreitet, es wurde aus dem Ausland aufgerufen, sich mit steinen etc. zu bewaffnen, fotos aus Kairo und Buenos Aieres gezeigt, die Proteste in Cuba darstellen sollen. Auch der Interviewpartner der Taz sagt, Diaz-Canel hätte zur Gewalt aufgerufen, das stimmt aber nicht. Ich habe den Eindruck, dass hier etwas falsch dargestellt wird. Liege ich falsch? Bitte um eine Klärung, ich war selbst nicht dort, aber die Berichterstattung scheint mir, bei aller berechtigten Kritik an der Mangelwirtschaft, nicht ganz korrekt zu sein.

    • Paula , Moderatorin
      @Hotte2:

      Hier ein paar Infos von unserem Autor:



      Die UN-Direktorin für Menschenrechte hat die Freilassung kubanischer Demonstranten gefordert. Der DPA-Agentur-Bericht bestätigt auch, dass es Gewalt von Seiten der Polizei gab und dass Menschen in Isolationshaft gehalten werden.



      Der Aufruf zur Gewalt von Präsident Díaz Canel lässt sich nicht wegdiskutieren, das ist der O-Ton aus der Grnama: Tienen que pasar



      por encima de nuestros cad veres si



      quieren enfrentar a la Revoluci n.



      Estamos dispuestos a todo, y estaremos



      en las calles combatiendo.



        Estamos convocando a todos los



      revolucionarios del pa s, a todos



      los comunistas, a que salgan a la



      calle en cualquiera de los lugares



      donde se vayan a producir estas



      provocaciones, hoy, desde ahora



      y en todos estos d as, y enfrentarlas



      con decisi n, con firmeza, con



      valent a.

      Und ein paar Berichte über Polizeigewalt: www.nytimes.com/es...uba-represion.html

      elpais.com/interna...mas-protestas.html



      elpais.com/elpais/...056483_854034.html

      • @Paula:

        Zur Polizei muss man wohl konstatieren, dass sich gerade die PNR (Polizei) während der Demonstrationen wohl weitestgehend zurückgehalten hat, zumindest ist das zahlreich dokumentiert. Die PNR hat eigentlich an vielen Stellen die Demonstrationen lediglich begleitet, oder versucht, deeskalierend zu agieren. Das ist im Netz vielfach dokumentiert. Teilweise sind die Polizist*innen regelrecht vor der Gewalt geflohen.



        Dabei sieht man aber auch, dass die Polizei von den agressiven Demonstrant*innen sehr massiv angegangen und angeschrieen wurde.



        Hier nur ein Hinweis, es gibt zahlreiche andere dokumentierte Fälle, die aggressiv die sogenannten friedlchen Demonstrant*innen vorgegangen sind. Es gibt zahlreiche andere dokumentierte Fälle im Netz.



        www.youtube.com/wa...v=tlkeJcDN56w&t=5s

        So wie ich das Videomaterial einschätze, ist es doch auch absurd, den Polizist*innen eine grundsätzliche Gewaltbereitschaft zu unterstellen und beliebig Demonstrat*innen festgenommen zu haben, nur weil sie "Libertad" gerufen haben. Im Gegenteil hat es eine große Anzahl an Plünderungen gegeben, gegen die die Polizei eingeschritten ist (Näheres dazu siehe unten).

        Auch haben die cubanischen Verantwortlichen nach den Veranstaltungen sehr ruhig und besonnen über die Vorfälle gesprochen.



        Dabei wurde auch klar, dass vor allem die schwierige Versorgungslage, die COVID-Pandemie (= kaum Tourismus, = gleich kaum Einnahmen) und der Ausfall eines großen Stromkraftwerkes (was zu Stromabschaltungen geführt hat) bei gerade den sozial Schwächeren zu den Aufständen geführt hat. Teilweise haben die Demonstrant*innen ja sogar nach Impfstoffen verlangt. Diaz-Canel hat sich dabei grundsätzlich für einen Dialog ausgesprochen, er könne die schwierige Situation für einen Großteil der Bevölkerung verstehen und nachvollziehen, hat sich aber auch klar dafür ausgesprochen, dass er die Gewalt, die zu Beginn wohl ausschließlich von den Demonstrant*innen ausging, nicht tolerieren kann.

      • @Paula:

        Hallo Herr Henkel,

        vielen Dank für die Rückmeldung. Die Artikel aus der El Pais und der NewYorkTimes kannte ich noch nicht. Insbesondere bei den angehängten Video-Aufzeichnungen sind in der Tat einzelne polizeiliche Übergriffe dokumentiert. Von daher stimmt es natürlich, dass es Polizeigewalt gegeben hat. Das gehört natürlich untersucht und sanktioniert, keine Frage.

        Auch insbesondere die El Pais-Artikel sind differenziert und zeigen eigentlich, dass die Situation in Havanna durchaus nicht so einfach zu bewerten ist, wie es Herr Matos sugeriert. Eine Dokumentation von systematischer und angeordneter Polizeigewalt kann ich aber auch in den Artikeln nicht entdecken - ich habe sie zwei Mal gelesen.

        Bei dem Zitat von Miguel Diaz-Canel sehe ich es auch ähnlich wie Joss Daniels. Ich finde die Rede von Diaz-Canel auch nicht gut und ich mag diese martialische Sprache auch nicht. Daraus aber einen Aufruf zur Gewalt herauszulesen finde ich grob fahrlässig. Begriffe wie combatir und luchar gehören durchaus zum "revolutionären" Sprachgebrauch. Darunter ist eher ein pathetischer Aufruf für Gegendemonstrationen zu verstehen. Das muss man nicht mögen, aber daraus einen Aufruf zur Gewaltanwendung zu interpretieren ist geradezu absurd. Als Beleg dafür kann man die große Anzahl von organisierten und unorganisierten pro-regierungs-Demonstrationen anführen - die friedlich waren. Ich muss gestehen, wenn ich die kompromisslosen Argumente von Herrn Matos so lese, dann wundert es mich nicht, dass die Gespräche mit der Regierung nicht zu einem Kompromiss geführt haben. Aber das ist eigentlich ein anderes Thema, Kritik an dem Gesetzt 349 ist ja durchaus angebracht.



        Die Ansprache von Diaz-Canel (in Gänze) gibt es überigens auch als Video-Datei unter zu sehen, dann kann man das ggf. auch besser einordnen.