Kritisches Kino aus der Türkei: Gefangene des Orts
Ferit Karahans Film „Brother’s Keeper“ kritisiert autoritäre Strukturen. Er spielt in einem ostanatolischen Internat, streng und repressiv geführt.
Die medizinische Behandlung besteht aus einer Aspirin und einem Becher Wasser. Dann dämmert Memo in einen bewusstlosen Zustand weg. Das Krankenzimmer mit dem regungslosen Jungen wird zum zentralen Handlungsort von Ferit Karahans Spielfilm „Okul Tıraşı“ (Brother’s Keeper) werden.
Der türkisch-kurdische Regisseur zeigt eine Institution, in der die Lehrer_innen die Ordnung mit großer Härte aufrechterhalten. Morgens, während die Schüler sich in ihre Hemden und Miniaturanzüge zwängen und die Krawatte umbinden, schreit der Lehrer mit dem Stock in der Hand vom Flur aus in die Zimmer.
Als Yusuf sich unwillig aus dem Krankenzimmer löst und seinen Freund der Obhut des Krankenwarts überlässt, schiebt er sich zwischen die Reihen seiner Mitschüler beim Morgenappell. Auf die versammelten frierenden Schüler prasselt gerade eine nationalistische, unerbittliche Tirade des Direktors herunter. Diese seien undankbar gegenüber den angeblichen Wohltaten des Staates und überhaupt sei früher alles noch härter gewesen und die Schüler hätten es viel zu gut.
Kopfrasur als Strafe
Dann ruft einer der Lehrer „Applaus!“ und alle klatschen pflichtschuldig. Hinter den Schülern erheben sich die Berge und lassen die Selbstbeweihräucherung klein erscheinen. Dann lässt sich der Direktor einen der Schüler aus den Reihen fischen und rasiert ihm zur Strafe für eine Übertretung mitten auf dem Kopf einen Streifen Haare ab. Übersetzt heißt der Titel „Okul Tıraşı“ Schulrasur.
„Brother’s Keeper“. Regie: Ferit Karahan. Mit Samet Yıldız, Ekin Koç u. a. Türkei/Rumänien 2021, 85 Min.
Das Internat ist in der Region eine angesehene Schule. Als Yusuf später mit einem geborgten Handy seine Mutter anruft, wimmelt die ihn ab und ruft ihm in Erinnerung, dass die Familie daheim im Dorf auf ihn und seine Ausbildung hofft. Eine schwere Bürde für einen Elfjährigen, der sich Lehrern gegenübersieht, die Ohrfeigen für Pädagogik halten.
Regisseur Karahan hat in den 1990er Jahren selbst sechs Jahre in einem solchen Internat verbracht und anschließend auf dem Weg zum Filmemacher lange um eine angemessene Auseinandersetzung gerungen. Im Jahr 2009 schrieb Karahan einen ersten Drehbuchentwurf, konnte auch eine Drehbuchförderung einwerben, bekam aber keine Produktionsförderung. Das Projekt schlief ein. Stattdessen entstand 2013 sein Debütfilm „Cennetten Kovulmak“ („The Fall from Heaven“) als türkisch-italienische Koproduktion, der 2014 auf den Filmfestivals in Antalya und Ankara mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde.
Als Yusuf nach dem Unterricht zu seinem Freund ins Krankenzimmer zurückkehrt, liegt Memo unverändert auf der Liege. Yusuf informiert einen der Lehrer. Memo zum Arzt zu transportieren, erweist sich angesichts der dichten Schneedecke als kompliziert. Das Auto des Direktors hat keine Winterreifen und kommt nicht durch, und der einzige andere Fahrer kann nicht kommen.
Autoritär und hilflos
Einer nach dem anderen kommen die Lehrer ins Krankenzimmer, legen die Hand auf Memos Stirn, stellen fest, dass er kein Fieber hat, stellen ein paar Fragen, die zu nichts führen, und sagen Sätze, die nichts lösen. Ihre Fähigkeiten reichen nicht für den bewusstlosen Jungen.
In ihrer Hilflosigkeit beginnen die Lehrer, sich auf der Suche nach der Ursache gegenseitig die Schuld zuzuschieben und laufen mit dem Handy umher, den Arm ausgestreckt, um Empfang zu finden und Rettung von außen.
Als der Direktor den Raum betritt, stabilisiert sich die im Zerfall befindliche Ordnung für einen kurzen Moment, um dann vollends zusammenzubrechen, als dieser – wie seine Vorgänger recht schnell ratlos – den Anweisungen des Schülers aus dem Krankenzimmer folgend am Fenster auf einen Stuhl steigt, um, das Ohr dicht an der Scheibe des Oberlichts, mit dem nun flüchtig vorhandenen Handysignal einen Krankenwagen zu rufen. Wohlstrukturiert und darum umso grundsätzlicher zerlegt Ferit Karahan die Selbstherrlichkeit des autoritären Internats.
Karahan, der das Drehbuch zu „Okul Tıraşı“ gemeinsam mit seiner Frau Gülistan Acet geschrieben hat, nimmt das marode Heizungssystem, das sich wie ein Running Gag durch den Film zieht, als Symbol für das Zerbröseln der Verhältnisse in der Schule. Wieder und wieder fährt vor allem der Direktor den Hausmeister Mahmut an, ohne dadurch irgendetwas zu ändern. Als Mahmut schließlich kapituliert und einen Installateur anruft, hat der genauso wenig Zeit, der Schule aus der Patsche zu helfen, wie der Fahrer.
Logik der Unterwerfung
Der Direktor und die Lehrer führen das Internat im Niemandsland der Berge wie ein Umerziehungslager. Innerhalb der Schule bestimmen sie die Regeln, denen sich die Schüler aus dem Umland zu unterwerfen haben. Diese Regeln folgen einer mehr oder weniger kolonialen Logik, in der die Entsandten des türkischen Staates den kurdischen Schülern erwünschtes Verhalten anerziehen.
Als Yusuf in eine Unterhaltung zwischen zwei Lehrern hineingerät, ist deren Ton untereinander jovial. Als das Gespräch auf die Schüler und den Hausmeister kommt, ändert sich der Ton: „Die Kerle sind Platzverschwendung“, „Die wissen nix von Arbeit“.
Indem Karahan durch den bewusstlosen Schüler die Ordnung der Schule durcheinanderbringt, kehrt er die Verhältnisse um. In dem Moment, in dem der Direktor und die Lehrer auf Hilfe von außen angewiesen sind, die mit ihren gewohnten Mitteln unerreichbar ist, werden sie selbst zu Gefangenen des Ortes.
Bilder von Türksoy Gölebeyi unterstreichen die räumliche Enge. Immer wieder schieben sich Körperteile, Schultern, Rücken vor die Kamera und bilden unscharfe Flächen in den Bildern, die räumlich vor dem Geschehen liegen. Der Raum scheint nicht zu reichen, um diesen Störfaktoren auszuweichen. Die Lehrer wiederum wirken nicht selten, als wären sie in der Kadrierung eingeengt worden. Jene Szene, in der Yusuf seinen Freund über den Schulhof schleppt, ist eine der wenigen Totalen des Films.
Preis auf der Sommerberlinale
Memos Bewusstlosigkeit und Yusufs Einsatz für seinen Freund entziehen sich der Enge und damit der Logik des Ortes. Dass die Bilder des Films im heute beinahe ungebräuchlichen Normalformat aufgenommen sind, lädt den Eindruck der Enge zusätzlich mit einer Assoziation von Überkommenheit auf. Karahans Film zeigt die Institution der Provinzinternate als überkommenen, repressiven Ort der Zurichtung der jungen Schüler in fügsame Bürger.
„Okul Tıraşı“ hatte das Pech, mitten in der Pandemie fertig zu werden und eine entsprechend brüchige Aufführungsgeschichte. Der Film lief Anfang 2021 auf dem Hongkong Film Festival, im Sommer 2021 auf dem Open Air der Berlinale Summer Special und später auf den Festivals in Karlovy Vary, Antalya und Chicago.
Auf der Sommerberlinale wurde er mit dem Preis der internationalen Vereinigung der Filmkritiker (FIPRESCI) ausgezeichnet. Karahans Film ist ein weiteres Beispiel dafür, dass der türkische Film der Gegenwart, den autoritären politischen Tendenzen der Türkei zum Trotz, quicklebendig, kritisch und verlässlich sehenswert ist.
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