Kritische Theorie & USA: Herbert Marcuse als CIA-Agent

Lange hielt sich das Gerücht von Herbert Marcuse als CIA-Agent. Tim B. Müllers "Krieger und Gelehrte" erzählt die Geschichte von Linksintellektuellen und Geheimdiensten neu.

Auf dem Höhepunkt von 1968 hatte die parteikommunistische Presse Herbert Marcuse als CIA-Agenten denunziert. Bild: dpa

Der Kalte Krieg ist vorbei; die Aktenschränke öffnen sich. Am reizvollsten lesen sich noch immer Geheimdienstgeschichten. Im Gefolge von 9/11 wurde vor allem die CIA zum Objekt voyeuristischer Begierde. Wer sie für das inkarnierte "Reich des Bösen" hält, kann sich, mit ihrer Entstehungsgeschichte konfrontiert, nur wundern.

Dieses Überraschungsmoment nutzt Tim B. Müller geschickt, um das Interesse seiner Leser auf die geheimdienstlichen Aktivitäten Herbert Marcuses und seines Freundes Franz Neumann in den Vierzigerjahren zu lenken. Auf dem Höhepunkt von 1968 hatte die parteikommunistische Presse, kolportiert vom Spiegel, Herbert Marcuse als CIA-Agenten denunziert, spekulierend auf die allgemeine Ahnungslosigkeit. Wer wusste damals schon, dass die Gründung der amerikanischen Geheimdienste ein War Effort war, um den kaum bekannten Feinden Deutschland und Japan Paroli bieten zu können?

Auch von den Wissenschaftlern wurde ein Beitrag zur Kriegsführung verlangt. Viele meldeten sich freiwillig, um der Regierung ihr Wissen zur Verfügung zu stellen. Progressive amerikanische Sozialwissenschaftler hatten sich schon vorher mit dem New Deal Roosevelts verbündet, um die USA aus der Existenzkrise von 1929 zu ziehen. Viele trafen sich nach 1941 in Washington DC, wieder, um das Office for Strategic Services aufzubauen. Nach der Auflösung dieses ersten US-Geheimdienstes 1945 kehrten einige an die Universität zurück, andere wurden 1947 zum Aufbau der CIA herangezogen oder fanden Unterschlupf im immer noch liberalen State Department. Sie wurden nun neben Hollywood ein bevorzugtes Hassobjekt McCarthys.

Die deutschen Emigranten Herbert Marcuse und Franz Neumann waren immer dabei. Die Gerüchte überlebten sie. Noch 1999 behaupteten Allen Weinstein und Alexander Vassilev, Neumann sei ein KGB-Maulwurf gewesen, auch die FAZ stellte es so dar. Von diesem geheimdienstlichen Haut gout zehrt auch der spannende erste Teil dieses Buches, das ein eigenes hätte werden können. Müller arbeitet die Geheimdienst-Papiere der Research & Analysis Branch (R&A) auf, die schon zum Teil als Herbert Marcuses "Feindanalysen" publiziert wurden. Aber Müller stellt Marcuses Texte in Zusammenhang mit den Arbeiten seiner Freunde in der Abteilung, Stuart Hughes, Hans Meyerhoff und Carl Schorske, die bisher nur Spezialisten bekannt waren. Auf diese Weise erhält man ein lebendiges Bild der recht genauen Deutschland- und Mitteleuropavorstellungen, die für die psychologische Kriegführung wie für die Nachkriegspolitik den US-amerikanischen Administrationen zur Verfügung standen.

Müller möchte nun den Übergang der Wissenschaft im Dienste der Geheimdienste in die akademische Wissenschaft, finanziert vom philanthropisch-politischen Komplex der großen Stiftungen, aufzeigen. Die institutionellen Verflechtungen von Rockefeller Foundation, Eliteuniversitäten und Regierung in der Ära des Mc Carthyismus, die es Marcuse ermöglichte mit Rußlandforschungen vom State Department in die Columbia University überzuwechseln, lesen sich spannend wie ein Krimi. Auch die Diskussionen um das Begreifen des Totalitarismus erscheinen in einem viel komplexeren Zusammenhang, als ahnungslose Befürworter und Verächter einer angeblichen Totalitarismustheorie es sich träumen lassen.

Aber Tim B. Müller wollte mehr. Seine Darstellung ist ambitioniert: Nicht nur ein neues Marcusebild sollte gezeichnet werden, sondern eine neue Perspektive, den Kalten Krieg zu verstehen, sollte mithilfe einer nach Deutschland transferierten "Intellectual History" aufgezeigt werden. Das akademische Innovationsgebot an Doktorarbeiten und Habilitationsschriften wird in diesem Buch vielfach übererfüllt und wie so oft leiden bei Planübererfüllungen Genauigkeit und Qualität. Müller kann gut schreiben; aber er verwechselt of die Textsorten. Journalistisches und Erzählerisches werden mit langen Belegen aus theoretischen Texten und privaten Briefen vermischt. Auch die beste Intellectual History hat damit zu kämpfen, Theorien in ihrer Eigenständigkeit zu erfassen, ohne sie im gesellschaftsgeschichtlichen Kontext zu paraphrasieren. Selbst Thomas Wheatlands bahnbrechende, leider immer noch nicht übersetzte Studie der "The Frankfurt School in Exile", hat mit diesem Problem zu kämpfen, das der "Ideengeschichtler" Tim B. Müller schlicht verleugnet.

Schon seine Übertragung von Begriffen ins Deutsche verzerrt absichtsvoll. Weder Marcuse noch Hughes und Schorske waren "Krieger" und daher auch keine "Kriegskameraden", wie er nicht müde wird, sie zu nennen, sondern Freunde. Politisch entstammten sie dem linken, sozialistisch-liberalen Teil der New Dealer, der eben nicht "sozialdemokratisch" war und ist, während Herbert Marcuse politisch aus der deutschen Rätebewegung hervorgegangen ist und sein New Yorker Freund Franz Neumann aus der der linken klassenkämpferisch-reformistischen Weimarer SPD kam.

Im War Effort fanden sie alle eine gemeinsame antifaschistische Aktivität. Aber theoretisch divergierten sie; Marcuse und Neumann waren als Kritische Theoretiker nach Amerika gekommen; sie waren in einer überindividuellen gemeinsamen Sache mit Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Leo Löwenthal an der Columbia verbunden geblieben. Dort, also vor seiner Geheimdienstzeit, ist auch Marcuses bahnbrechende Arbeit "Some Social Implications of Modern Technology" ("Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie") 1941 erschienen, in der alle Aspekte, die später in seinen Studien "Soviet Marxism" ("Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus") und "One-Dimensional Man" ("Der eindimensionale Mensch") entfaltet wurden, keimhaft angelegt sind.

Seine Unempfindlichkeit für theoretische Begriffsarbeit lässt Tim B. Müller bestimmte Sachverhalte verkennen. So fuchtelt er wild mit dem Ideologiebegriff herum, der in einer kritischen Gesellschaftstheorie eine genaue Bedeutung hat, in der Alltagssprache nur eine vage. Auch seine Attribuierungen wie "marxistisch" haben keine Präzision. Die Kategorie der "immanenten Kritik", ein Kernstück kritischer Theorie, wird zur verflachten Antragsfloskel. Seine bonmothafte Umformulierung der "Dialektik der Aufklärung" zu einer geheimdienstwissenschaftlichen Erkenntniskategorie im Gegensatz zur theoretischen Spekulation ist eine irreführender Gag. Für Tim B. Müller zählen aber nicht die Worte und ihr Sinn, sondern die Aktenlage.

Die "Kriegskameradschaft" aus R&A und Auftragsforschung im Kalten Krieg soll einen engeren Zusammenhang stiften als die Gemeinsamkeit der Kritischen Theoretiker. Um diese kontrafaktische Behauptung plausibel erscheinen zu lassen, scheut er sich nicht einen optimistischen, empirisch guten Marcuse gegen einen pessimistischen, praxislosen Theoretiker Adorno auszuspielen. Er behauptet gegen die Tatsachen, Marcuse habe in den 60er Jahren die Studenten für das neue revolutionäre Subjekt gehalten. Sein Briefwechsel mit Adorno, den Tim B. Müller als Beleg heranzieht, spricht eine andere Sprache, die Müller schlicht fehlinterpretiert.

Marcuse und Adorno stritten 1969 um eine gemeinsame "Sache", nämlich die der Kritischen Theorie, die für eine emanzipatorische Praxis, das richtige Leben, die Tür offenhalten sollte. Mit Praxis war hier weder die akademische Lehre noch die Geheimdienstprosa gemeint, sondern Marxs "Thesen über Feuerbach".

Marcuse wollte noch in den 50er und 60er Jahren mit Horkheimer und Adorno zusammenarbeiten, egal wo. Seine akademische Existenz in den USA war gerade, als er weltberühmt geworden war, keineswegs ungefährdet. Seine Tätigkeit in amerikanischen Institutionen hat Marcuse keineswegs verherrlicht, sondern sie fand unter der Maxime statt, "to play the rules of the game, while still maintaining our intellectual integrity". Herausgearbeitet zu haben, was Marcuse Großartiges aus diesen Jobs gemacht hat, das ist Tim B. Müllers Verdienst. Die in diesem Kontext entstandenen Bücher "Reason and Revolution" ("Vernunft und Revolution"), "Eros and Civilisation" ("Triebstruktur und Gesellschaft") und "Soviet Marxism" verdienen es, wieder gelesen zu werden.

Tim B. Müller: "Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg". Hamburger Edition, Hamburg 2010, 736 Seiten, 35 Euro

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Hannover. Von ihm erschien die Adorno-Biographie "Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie"

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