Kritik an Korruption in Russland: Wenn das Volk spazieren geht
Bei Protesten werden mehrere hundert Demonstranten festgenommen. Oppositionsführer Alexej Nawalny kam gar nicht erst aus dem Treppenhaus.
Nawalny blieb am Montag nicht der einzige Festgenommene in Russland. Bei den Massenprotesten gegen die Regierung gerieten Hunderte hinter Gitter. Demonstriert wurde in Dutzenden Städten im ganzen Land. Im sibirischen Nowosibirsk sollen es 3.000 Menschen gewesen sein. Insgesamt hatten sich Menschen in mehr als 150 Städten dem Aufruf Nawalnys gegen Korruption angeschlossen. In Sankt Petersburg sind nach Augenzeugenberichten etwa 300 Menschen festgenommen worden. In Moskau sollen es über 600 gewesen sein. In Wladiwostok am Pazifik wurden elf Festnahmen gemeldet.
In Moskau hatte der Kämpfer gegen Korruption am Vortag das Volk kurzfristig zum Flanieren auf Moskaus Prachtboulevard, der Twerskaja, aufgerufen. Ursprünglich hatte Nawalny für den nationalen Feiertag, den „Tag Russlands“, in Moskau eine Protestkundgebung auf einem Platz angekündigt.
Am Sonntagabend stellte sich jedoch heraus, dass die Stadtverwaltung Vorsorge traf, um die Veranstaltung ins Leere laufen zu lassen: Weder seien Firmen bereit gewesen, eine Bühne aufzustellen, noch fanden sich Unternehmen, die Soundanlage und Videoleinwand vermieten wollten. Die Stadt habe den Unternehmern mit Konsequenzen gedroht, erklärte Nawalny auf seinem YouTube-Kanal und spielte Telefonate mit Firmenmitarbeitern ein, die die Absagen auf Interventionen von außen schoben.
Der Volkstribun hatte seine Parteigänger daraufhin aufgefordert, sich mit der russischen Trikolore unter das fröhliche Volk in der Innenstadt zu mischen. Dort feierte Moskau den nationalen Feiertag unter dem Motto „Zeiten und Epochen“, die sich als eine „Geschichte der Siege“ darstelle. Am Beginn der Twerskaja, nur ein Steinwurf vom Kreml entfernt, ging alles so friedlich zu, wie es in Moskau üblich geworden ist. Historische Panzer und Kanonen standen dort, auf denen Jung und Alt in Uniformen herumturnen durften. Eine Stalinorgel erinnerte an glorreiche Zeiten der Sowjetunion. Kosaken gaben einen Lagebericht an ihrem Stand ab: „Wir haben drei Verluste zu verzeichnen“, hieß es. Es ging nicht um Kriegsverluste, auch der Alkohol fordert Opfer.
Versteckt hinter der Trikolore
Erst weiter oben auf dem Prachtboulevard tauchten die Anhänger Nawalnys auf. Sie hielten russische Fahnen hoch, einige hatten sich die Trikolore ins Gesicht gemalt. So konnten sie die Einlasskontrollen ungehindert passieren. Es waren sehr viele Jugendliche unter ihnen. Sie zeigten keine Angst, als die Spezialkräfte der Truppen des Innenministeriums gegen die Menschenmenge vorgingen, die sich als Demonstranten entpuppt hatten.
Dies sei eine noch unverdorbene Generation, meinte ein etwa dreißigjähriger Demonstrant: „Es muss im Land endlich etwas passieren, nicht durch Revolution, aber wenigstens durch ehrliche Wahlen“, meinte Sergej, der sich als IT-Techniker vorstellte und seinen Nachnamen nicht nennen wollte. Tatsächlich waren viele Demonstranten erst um die 20 Jahre alt.
Sergej, IT-Techniker
Unterdessen wurden die Sprechchöre auf der Twerskaja lauter: „Wir sind die Macht“ und „Putin ist ein Dieb!“ Auch Premierminister Dmitrij Medwedjew wurde bedacht: „Hau doch ab, Dmitrij!“ schwoll der Chor an und klang mit „Medwedjew vor Gericht!“ aus. 2.000 bis 3.000 Demonstranten mögen es gewesen sein, die am Montag in Moskau auf die Straße gingen.
Der Premier war schon Anlass für die Proteste gegen die Korruption gewesen, die am 26. März in ganz Russland mehr als 60.000 meist jugendliche Demonstranten auf die Straße brachten.
In den Seitenstraßen des Boulevards warteten an diesem Montag die Bereitschaftswagen der Spezialeinheiten. Offensichtlich hatten die Verantwortlichen alle Ordnungskräfte an die neue Front geworfen. Was folgte, waren Festnahmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen