Kritik an Kommunikation von WHO-Behörde: Was die Süßstoff-Warnung bedeutet
Die WHO steht nach der Krebswarnung vor einem Süßstoff in der Kritik. Anders als bei Zucker sei nicht belegt, dass Aspartam zum Krebsrisiko beitrage.
Der kalorienfreie Süßstoff Aspartam soll Abnehmwilligen und Freizeitsportlern bereits seit über 40 Jahren das Leben leichter machen. Der Zusatzstoff E 951 steckt in allen möglichen Lebensmitteln: in Diät-Softdrinks, Süßwaren, Kaugummis, Milchprodukten, Marmeladen, Desserts, Backwaren oder Fertiggerichten.
Nun soll Aspartam laut der WHO-Behörde IARC (Internationale Agentur für Krebsforschung) „möglicherweise krebserregend“ sein. Zahlreiche Medien griffen die News auf. Krebs ist die Krankheit, die Menschen am meisten fürchten. Verständlich also, dass sich Verbraucherinnen und Verbraucher nun fragen: Also doch lieber wieder Zucker anstatt Aspartam essen?
Zeitgleich zum IARC-Bericht erschien eine weitere Einschätzung zum möglichen Gefahrenpotenzial des Süßstoffs. Das Gremium JECFA, das ebenfalls zur Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehört, schlussfolgerte, dass Aspartam in den zugelassenen Mengen von 40 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht und Tag sicher sei, auch im Hinblick auf andere Krankheiten wie Diabetes Typ 2 oder Herzleiden. Um diese Mengen zu erreichen, müsste eine 70 Kilogramm schwere Person satte 4,5 bis 7 Liter Diät-Limonade täglich trinken. IARC und JECFA brachten ihre Ergebnisse in einer gemeinsamen Pressemitteilung heraus.
Trotz dieser Einordnung hagelte es Kritik. „Die Risikokommunikation von IARC finde ich unverantwortlich“, sagt Michael Siegrist, Konsum-Forscher an der ETH Zürich. Schließlich könnte auch Wasser gefährlich sein, wenn es in zu hohen Dosen konsumiert werde. Andere Forscherinnen und Forscher sprachen von unnötigem Alarmismus und unsäglich einseitigen Aussagen außerhalb der Fachpresse.
IARC bewertet nicht das echte Krebsrisiko
Tatsächlich bewertet die IARC nur, ob eine Umweltchemikalie wie Aspartam das generelle Potenzial hat, Krebs zu erregen, unabhängig von der Dosis. Der Risikoforscher Ortwin Renn vergleicht dies mit einem Messer: „Natürlich kann ein Messer andere Menschen verletzen, es ist also potenziell gefährlich, bei ordnungsgemäßem Gebrauch aber harmlos.“ So finden sich in der gleichen IARC-Kategorie wie Aspartam auch Aloe Vera oder Diesel-Emissionen. Die Einstufung als „möglicherweise krebserregend“ basiert auf Studien ohne ausreichende Beweiskraft.
Wurstwaren werden vom IARC sogar als „eindeutig krebserregend“ in die gleiche Kategorie wie Asbest und Rauchen eingeteilt. Das heißt zwar, dass die Studienlage ein klares Bild ergibt. „Aber natürlich ist etwa Rauchen viel gefährlicher als der Konsum von Schinken und Wurst“, sagt Renn. „Und Aspartam ist, was die aufgenommene Dosis anbetrifft, bei weitem nicht so gefährlich wie Diesel-Emissionen, weil vor allem die im Abgas enthaltenen Feinstäube auch schon bei geringer Konzentration Krebs auslösen können.“
Die IARC macht also gar keine echte Risikobewertung. Dafür sind andere Institute wie die JECFA, die europäische Lebensmittelbehörde (EFSA) und das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) zuständig. An deren Einschätzungen orientieren sich auch die medizinischen Fachgesellschaften. Laut der Deutschen Krebsgesellschaft etwa ist ein ausgewogener und vollwertiger Speiseplan, ein normales Körpergewicht und wenig bis kein Alkohol entscheidend, um Tumoren vorzubeugen. Von Süßstoffen wird nicht explizit abgeraten.
Zucker ist nachweislich schädlicher
Möglich ist etwa, dass die Funde in den von der IARC ausgewerteten epidemiologischen Studien nicht eindeutig dem Aspartam, sondern anderen Einflussfaktoren zugeschrieben werden könnten. Denn wer viel mit Aspartam Gesüßtes isst, hat sehr wahrscheinlich viele hoch verarbeitete Lebensmittel auf seinem Speiseplan, und in denen stecken noch viele andere ungesunde Stoffe wie Transfettsäuren, Acrylamid oder Salz.
„Es bleibt zu hoffen, dass die neue Einstufung Konsumenten nicht dazu bringt, von Süßstoffen auf Zucker umzusteigen“, sagt Stefan Kabisch, Stoffwechselexperte an der Charité. „Der Nutzen von Aspartam ist gering, der Schaden nicht nachweisbar.“ Dagegen sei für Zucker deutlich klarer belegt, dass er zum Krebsrisiko beitrage, da zugesetzter Zucker die Entstehung von Übergewicht und Diabetes Typ 2 fördere.
Überschüssige Pfunde und Zuckerentgleisungen können über entzündliche Prozesse Zellgewebe entarten lassen. Aspartam wird hingegen im Körper zu Stoffen abgebaut, die auch durch andere Nahrung aufgenommen werden, wie Eiweißbausteine oder Methanol. Methanol ist zwar tatsächlich nicht ungefährlich, entsteht aber laut BfR in so geringen Dosen aus aspartamhaltigen Lebensmitteln, dass diese kaum zu Krebs führen könnten.
Wenn beim IARC also gar keine richtige Risikobewertung stattfindet und die WHO-Behörde für die medizinischen Fachgesellschaften keine entscheidende Rolle spielt, wie sinnvoll ist dann ihre Bewertung von Umweltgiften?
Ortwin Renn sieht die IARC-Einstufung als sinnvolles Puzzleteil, um mögliche Gesundheitsgefahren überhaupt erst zu identifizieren. „Die Einstufungen des IARC liefern einen ersten Hinweis auf ein Gefährdungspotenzial, daran kann sich dann die viel aussagekräftigere Risikoanalyse anschließen“, sagt Renn. Auch andere Forschende loben die IARC als zuverlässige Organisation, was die Einstufung von Chemikalien anbelangt.
Die IARC hat teils aus seinen Fehlern gelernt
Ist also möglicherweise die Öffentlichkeitsarbeit der IARC das Problem? In der Vergangenheit gab es bereits mehrere Beispiele, wo IARC-Publikationen für die Öffentlichkeit durchaus missverständlich waren.
So etwa beim Thema „rotes und verarbeitetes Fleisch“. 50 Gramm mehr verarbeitetes Fleisch pro Tag erhöhe das Risiko für Darmkrebs um 18 Prozent, teilte die WHO-Behörde damals der Öffentlichkeit mit, kommunizierte also lediglich das relative Risiko. Das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, liegt aber nur bei fünf Prozent. Folglich liegt das absolute Risiko bei 50 zusätzlichen Gramm verarbeitetem Fleisch pro Tag bei knapp einem Prozent mehr.
Allerdings hat die IARC teilweise aus diesen Fehlern gelernt. So wird die Aspartam-Pressemitteilung von Infografiken und Erklärfilmen flankiert, die das Vorgehen und wichtige Begriffe erklären. Der Statistiker David Spiegelhalter bewertet die aktuelle Berichterstattung der IARC gemeinsam mit dem JECFA darum als „sehr gut“, doch was in der Presse daraus gemacht wurde, sei absurd. Das Schweizer Online-Nachrichtenportal watson titelte etwa: „Krebs-Alarm bei Süßstoff – beliebtes Produkt betroffen.“ Der Wissenschaftler Michael Siegrist hält dagegen: „Die Risikokommunikation von IARC ist nicht State of the Art!“ Sie werde von Laien offenbar nicht verstanden.
Das Problem: Grundlegendes statistisches Wissen ist in der Allgemeinbevölkerung oftmals nicht vorhanden. So sind Verbraucher schon durch das bloße Vorhandensein einer chemischen Substanz in Lebensmitteln beunruhigt.
Warnungen vor Krebsgefahr haben wirtschaftliche Folgen
Bestes Beispiel ist Glyphosat: Das Unkrautvernichtungsmittel wurde im Jahr 2015 von der IARC als „wahrscheinliches Kanzerogen“ eingestuft. Als das Pestizid danach in zahlreichen Lebensmitteln gefunden wurde, hat das eine riesige Empörungswelle ausgelöst, die bis heute anhält. Dass die analysierten Mengen gesundheitlich unbedenklich sind, wie das BfR immer wiederholt, ist nicht in die Öffentlichkeit gedrungen. „Zudem werden Gefahren vor allem dann als bedrohlich wahrgenommen, wenn man sie nicht selber beeinflussen kann“, sagt Renn.
Die Lage ist verzwickt, da Warnungen vor Krebsgefahren durch bestimmte Pestizide, Mobilfunk oder Lebensmittel nicht nur Verbraucher betreffen. Sie können auch weitreichende wirtschaftliche und politische Dimensionen erlangen. Als Tabakrauch als „eindeutig krebserregend“ definiert wurde, kam es zu öffentlichen Rauchverboten. Und die IARC-Einstufung von rotem und verarbeitetem Fleisch führte in der Folge zu Absatzproblemen in der Fleischwarenindustrie.
Seit das Pflanzenschutzmittel Glyphosat als „wahrscheinliches Kanzerogen“ gilt, sind Schadensersatzklagen gegen den Hersteller Monsanto in den USA anhängig. Und auch das Thema Aspartam könnte Klagen gegenüber der Lebensmittelindustrie ermöglichen. Unglücklicherweise wurden die Ergebnisse des IARC zu Aspartam bereits Ende Juni geleakt und der Nachrichtenagentur Reuters zugespielt, bevor die Einordnung der JECFA veröffentlicht wurde. „Es kam in der Folge zu irreführenden Medienberichten“, sagt Spiegelhalter.
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