Kritik an EU: Besser als ihr Ruf
Der Europäischen Union wird oftmals ein Demokratiedefizit bescheinigt. Dabei haben Abgeordnete dort teilweise mehr Handlungsmacht als in Berlin.
I n vielen deutschen Medien werden auch im Jahr 2024 noch Bilder der Europäischen Union abgerufen, die zwar verständlich sind, aber doch nicht immer zutreffend: Typische Beschreibungen beinhalten nichttransparente Verhandlungen, beklagen die Überregulierung durch Bürokraten der Europäischen Kommission oder das Gemauschel zwischen Parlament und den Mitgliedstaaten.
Tatsächlich scheint es von außen nicht so einfach zu sein, den Politikprozess zu verfolgen. Als Reaktion darauf wird leider häufig die ganze Keule ausgepackt: Der Pauschalvorwurf, da herrsche ein großes Demokratiedefizit. Doch die heutige Verfasstheit der EU ist nicht das Problem. Die EU ist nicht weniger demokratisch als die Bundesrepublik Deutschland.
In der Landesvertretung NRWs fand kürzlich eine gemeinsame Veranstaltung mit der EU-Kommission zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit statt. Es ging um einen überarbeiteten Verordnungsvorschlag. Und jetzt kommt’s: Der neue Vorschlag basiert auf einer Initiative des Europäischen Parlaments. Wer hätte das gedacht?
Mitgliedstaaten sollen in den Grenzregionen Koordinierungsstellen einrichten, um strukturelle Probleme – beispielsweise für Grenzpendler – zu beheben. Das Parlament hatte hier mit einer Resolution Druck gemacht und eine ausgearbeitete neue Version des Gesetzestextes vorgelegt, die in Teilen von der Kommission übernommen wurde.
Sandro Gozi, ein liberaler Italiener (der in Frankreich gewählt wurde) hat federführend an diesem Text gearbeitet. Das Beispiel zeigt den Einfluss einzelner Abgeordneter. Es ist also gar nicht so wesentlich, ob das Europäische Parlament nun ein formales Initiativrecht hat oder nicht. Dieses Parlament ist in den meisten Politikbereichen gleichberechtigter Gesetzgeber und kann auch Gesetze anstoßen. Und die Mitglieder des Parlamentes gestalten die Gesetzestexte mit ihren Änderungsvorschlägen mit. So hat die deutsche Grüne Ska Keller als sogenannte Schatten-Berichterstatterin im Umweltausschuss ein Gesetz zur Verringerung der Umweltverschmutzung durch Mikroplastik mitformuliert, der in erster Lesung angenommen wurde.
Umso mehr hat mich gewundert, dass in der taz stand, die EU habe die einst so „rebellisch“ gestartete Ska Keller „verschluckt“, sie mache jetzt „irgendwas mit Fischerei“. Stimmt. Sie war neben dem Umweltausschuss auch im Fischereiausschuss tätig. Sie hat sogar in einem Interview ihr Motiv für den Rücktritt von der Fraktionsspitze dargelegt: Sie wollte stärker an der Gesetzgebung mitarbeiten.
Das Saarland und die Berliner Hinterzimmer
Dazu hatte sie im EU-Parlament wahrscheinlich sogar bessere Möglichkeiten als im Bundestag, wo tatsächlich die Mehrheitsfraktionen vieles abnicken, was aus den Ministerien kommt. Dagegen kam im EU-Parlament eine Mehrheit für das Renaturierungsgesetz zustande, weil außer Grünen, Liberalen, Sozialdemokraten und Linken am Ende doch auch einige Abgeordnete der Europäischen Volkspartei (EVP) dafür stimmten. Und obwohl Manfred Weber, der Fraktionsvorsitzende der EVP, das eigentlich hatte kippen wollen. Das heißt: Es geht in der EU und bei der Wahl vor allem um politische Mehrheiten. Und wenn sich die Mehrheiten ändern, ändert sich die Politik.
Vielen taz-Leserinnen mag die Politik der EU nicht links genug sein. Das hat allerdings nichts mit einem Demokratiedefizit zu tun, sondern mit den Mehrheiten der letzten Jahrzehnte: darum die Maastricht-Kriterien und das Griechenland-Desaster. Die Bundesrepublik ist ja auch nicht wegen der Schuldenbremse undemokratisch.
Ich halte es mit dem Staatsrechtler Alexander Thiele: Die EU weist mit ihren beiden formalen Legitimationssträngen – dem direkt gewählten Europäischen Parlament einerseits und dem indirekt demokratisch legitimierten Rat (mit den Regierungen) andererseits ein beachtliches Legitimationsniveau auf. Wer anderer Meinung ist, soll das belegen, vor allem im Vergleich zur Verfasstheit der Mitgliedstaaten. Fun-Fact: Der Bundestag muss sich in Deutschland die Gesetzgebungsarbeit mit dem Bundesrat teilen, also einer Versammlung der Exekutive mit merkwürdiger Stimmengewichtung – ich sage nur: Saarland. Und dieser merkwürdige Bundesrat, der kann sogar mit Blick auf das Haushaltsrecht mitmischen! Im Vermittlungsausschuss im Hinterzimmer.
Klar ist: Die Systeme sind natürlich nicht perfekt, dennoch wird nicht bei jeder Wahl die Bundesrepublik infrage gestellt. Was allerdings mit Blick auf die EU tatsächlich fehlt, ist eine solide Parlamentsberichterstattung zu laufenden Gesetzesvorhaben, die zivilgesellschaftliche Debatten in Europa möglich macht. Und natürlich Personalisierung. Die Wahlberichterstattung in Deutschland ist in dieser Hinsicht unterirdisch. Keine europäischen Debatten, nirgends. Oder kennen Sie Nicolas Schmit? Das ist der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten und Herausforderer von Ursula von der Leyen.
Zugegeben – wer in der EU was reißen möchte, muss sich mit den Details und Unzulänglichkeiten der Politik beschäftigen. Es handelt sich nämlich um eine politische Arena, inklusive politischen Streits, unterschiedlicher Ziele und eisenharten Kampfs um Mehrheiten. Wer beispielsweise linke Politik will, sollte für politische Mehrheiten dafür kämpfen. Wer mehr Klimaschutz möchte, braucht entsprechend Klimaschutz-Mehrheiten.
Die europäischen Rechtsaußen Geert Wilders und Marine Le Pen haben das übrigens verstanden, und sich deshalb von der AfD getrennt. Wie Giorgia Meloni wollen sie jetzt umschalten, vom EU-Bashing zum Anschluss an Mehrheiten in den Institutionen der Union. Und dann könnte tatsächlich was grundsätzlich falsch laufen in der EU. Aber nicht, weil das EU-Parlament den Haushalt zusammen mit den Mitgliedstaaten verabschiedet, sondern weil sich Mehrheiten radikal verschieben.
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