Krise in der Automobilindustrie: Feuer in der Puppenstube
„Reifen werden immer gebraucht“, sagt der Gewerkschafter. Doch im idyllischen Bamberg will Michelin schließen. Es kriselt bei Bosch. Was tun?
D er 800 Jahre alte Bamberger Dom verfügt derzeit über eine Neonreklame. Zwischen den Osttürmen steht in großen Lettern mal GOOD, mal GOD in die Dämmerung geschrieben, je nachdem, ob das eine O gerade flackert oder nicht. Die Botschaft vom „Guten Gott“ dürfte betrübten Seelen Trost spenden im Advent und strahlt weit über die mittelalterliche Altstadt, seit 1992 Weltkulturerbe.
Bis nach Hallstadt reicht die Leuchtkraft allerdings nicht. In den Zäunen des Industriegebiets hängt Wasser, das dunkle Wolken ausgeschüttet haben. Hier am Stadtrand von Bamberg erhellen industrielle Embleme den Abendhimmel. Der Autozulieferer Bosch hat eine ganzes Viertel in Schneeweiß errichtet, auf dem das Bosch-Logo prangt. Die Fertigungshalle der „Brose Fahrzeugteile“, Spezialist für Fensterheber und Sitzsysteme, wirkt glatt und so keimfrei wie ein Eisblock, darauf der Schriftzug „Brose“. Gefühle, gar Heimeligkeit, sind hier fern.
Aber halt! Am Tor des Reifenwerks winkt fröhlich das Michelin-Männchen. Das Unternehmen hat das Kunststück vollbracht, seinen Pneus so etwas wie ein menschliches Antlitz zu geben. Ausgerechnet hier ist die Trübsal am größten.
„Reifen werden immer gebraucht, solange Autos nicht fliegen können“, sagt Holger Kempf. „Und selbst dann benötigen sie Räder zum Start.“ Kempf lacht kurz auf, es klingt trotzdem nicht lustig, was der Bezirksleiter der IG BCE, der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie da sagt. Denn diese Gewissheit ist von gestern. Jedenfalls, was die Reifen aus Hallstadt betrifft. Zu Späßen ist hier im Bürotrakt hinter dem Michelin-Haupttor niemand mehr aufgelegt, seitdem Abgesandte der Konzernleitung im September verkündet haben, dass das Werk in Hallstadt Ende Januar 2021 geschlossen wird. 850 Beschäftigte verlieren ihren Job. Zwanzig Jahre sind die meisten Mitarbeiter im Schnitt bei Michelin. Betriebsklima und Geld haben gestimmt.
Vom Kündigungsschutz will Michelin nichts mehr wissen
Manch einer dürfte über die plötzliche Dreistigkeit aber auch die Faust geballt haben. „Aus heiterem Himmel“ sind sie von der Nachricht überrascht worden, sagt Holger Kempf. Josef Morgenroth, der Betriebsratsvorsitzende, nickt stumm. Haben sie doch erst im vorigen Jahr für alle deutschen Michelin-Standorte einen Tarifvertrag ausgehandelt, der bis 2022 gilt und betriebsbedingte Kündigungen ausschließt. „Wir können gar nicht anders, als darin einen Vertragsbruch zu sehen“, sagt Kempf.
Sicher, der Markt in Europa stagniere. „Wir verlieren Anteile an asiatische Hersteller“, räumt Morgenroth ein. Produkte aus Fernost steigen auf ins Premiumsegment und konkurrieren mit Michelin. Doch überweist das Werk in Hallstadt nicht Jahr für Jahr eine ordentliche Rendite an die Zentrale nach Clermont-Ferrand? „Dass wir geschlossen werden, lag nicht an der Leistung des Werks“, ist sich Morgenroth sicher. Morgenroth ist ein hochgewachsener, ruhiger Mann mit hoher Stirn und silbrigem Kinnbart. Seine Rede ist knapp, sein Blick betrübt. Jeder Betriebsrat will, dass es seinen Leuten besser geht, keiner will sie vom Hof schicken. Doch genau das steht Morgenroth bevor: Sollte Michelin nicht einlenken, muss er bald die ersten Kündigungen mittragen.
Lenkt Michelin ein? Illusionen darüber, dass die Reifenproduktion hier eine Zukunft hat, machen sich Morgenroth und Kempf keine mehr. „Unser Forderung ist, den Vertrag zu erfüllen und die Beschäftigung bis zum 31. 12. 2022“, fasst Kempf zusammen. Und wenn Michelin hart bleibt? „Der Gang zum Gericht ist Ultima Ratio.“ Jetzt beugt sich Josef Morgenroth vor. „Laut Betriebsverfassungsgesetz sind wir verpflichtet, dass Verträge eingehalten werden. Wenn wir das durchgehen lassen, schaffen wir uns selber ab!“ Es gehe aber auch um etwas ganz Grundsätzliches. „Wenn das am Ende die Dankbarkeit ist für die Sozialpartnerschaft, dann müssen wir uns Gedanken machen!“ Was, wenn Michelin mit diesem Verrat durchkommt? „Eben!“, fährt ein Betriebsratskollege hoch, der bislang schweigend dagesessen hatte. „Und das nach hundert Jahren Tarifautonomie!“
Natürlich haben sie hier demonstriert, Gewerkschaftsfahnen geschwenkt und voller Wut in ihre Trillerpfeifen geblasen. Sie haben sich Gelbwesten übergeworfen. In Frankreich brennen bei solchen Gelegenheiten aber schon mal Reifen. „Was nützt es, wenn Reifen brennen?“, fragt Kempf. „Die Franzosen lassen sich davon nicht beeindrucken.“
Eine sehr eigensinnige Art der Rebellion gibt es hier aber doch, erzählen die Gewerkschafter. Seit der Nachricht von der Schließung brummt die Produktion, wie schon lange nicht mehr. Die Leute legten sich ins Zeug, als ließen sich die Franzosen vom deutschen Fleiß beeindrucken. „Typisch fränkische Mentalität“, sagt Josef Morgenroth mit einem kurzen Lächeln. „Man muss den Hut vor der Mannschaft ziehen.“ Am Ausgang grüßt wieder das Michelin-Männchen. Es sagt fröhlich: „Au revoire!“
Drinnen sieht Bamberg wieder so sehr nach Puppenstube aus, als hätte hier einer vor hundert Jahren die Zeit angehalten. Die Gassen, geschaffen für Handwagen und Kutschen, sind für Autos viel zu schmal. Und der Weihnachtsmarkt befördert noch die Illusion, dass man in der Bischofsstadt nur von den Wirtshäusern lebe und den Gemüseständen mit ihrem fränkischen Feldsalat und den Bamberger Hörnchen, jenen Kartoffeln, die klein wie Finger in den Körben lagern.
„Bamberg ist nicht nur Welterbe-Stadt, Bierstadt, sondern in Wahrheit eine Autostadt!“ Eine Etage über dem Weihnachtsmarkt hat Andreas Starke sein Amtszimmer. Der Oberbürgermeister, 63 Jahre alt, SPD-Parteibuch, hört zwar gern, wenn seine Gäste ob der Beschaulichkeit ins Schwärmen kommen. Doch in seinem Büro hat er keinen Spitzweg hängen, sondern Miro und Beuys. Dann nennt er Zahlen. 25.000 Menschen leben im Umkreis von 30 Kilometern direkt oder indirekt von der Automobilzuliefererindustrie. Es gehe nicht nur um Arbeitsplätze, um Wertschöpfung, sondern um die finanzielle Ausstattung der Kommunen. Ein ganzer Kranz von Produktionsstätten legt sich um die oberfränkische Stadt, in der 77.000 Menschen leben. Zu den größten gehören die zwei Werke des Zulieferers Brose Fahrzeugteile, Bosch betreibt hier das größte deutsche Werk mit 7.500 Beschäftigten, in Hirschaid, südlich von Bamberg, produziert ein Werk des Kugellagerspezialisten Schaeffler, und – noch – Michelin.
Am Michelin-Konzern lässt Starke kein gutes Haar. Dass dieser „eiskalten Rechtsbruch“ begeht, hat der OB, im Vorleben ein Jurist, schon bei den Protesten vor dem Werk kundgetan. Grob missbraucht habe Michelin das Vertrauen des Betriebsrats, sagt er jetzt. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Dazu würde er auch gern Unterstützung aus Berlin einfordern. Zusammen mit Betriebsräten aus der Region, dem CSU-Landrat und dem hiesigen SPD-Bundestagsabgeordneten hat er einen offenen Brief an Wirtschaftsminister Peter Altmaier geschrieben. Die Bitte um Hilfe haben sie verbunden mit einer Einladung nach Bamberg – bisher ohne Echo.
Es ist unruhig geworden in Oberfranken. Die Regionalzeitungen berichten im Wochentakt von Krisen und Protesten. „Angst um die Zukunft“ ruft es vom Zeitungsständer und der Bäckertheke. Der Fränkische Tag berichtet in Knallrot auf Seite eins, dass bei einer Protestkundgebung im benachbarten Schweinfurt über 3.000 Beschäftigte von Automobilzulieferern auf die Straße gegangen seien. „Sie fürchten einen massiven Stellenabbau.“
Bei Bosch sind sie noch mal davongekommen
Die Leute von Bosch in Bamberg waren in diesem Jahr die ersten, die vors Werkstor zogen. Bosch Bamberg ist von allen Zulieferern am verwundbarsten. Mit seinen Einspritzsystemen für Diesel und Benziner, mit den Zündkerzen und den Komponenten für die Abgasnachbehandlung ist die Produktion hier nahezu vollständig vom Verbrennungsmotor abhängig. Der Betriebsrat hatte die Kolleginnen und Kollegen damals nebeneinander in drei Reihen aufstellen lassen – eine sehr lange in ganz Rot für den Diesel, eine kurze in Blau für den Benziner und eine sehr kurze in Weiß für E-Autos. „Zehn zu drei zu eins“, sagt Mario Gutmann. „Zahlen sind abstrakt.“ Wenn diese Zahlen aber Gesicht und Stimme haben, wird es konkret. Konkret heißt: Wenn Bosch Bamberg nur noch für E-Autos produziert, müsse 90 Prozent der Belegschaft gehen. Es könnte aber auch so kommen, dass die Autohersteller das dann alles selbst fertigen. Dann wäre bei Bosch Bamberg Feierabend.
Gutmann, 52 Jahre alt, mit einem Gelehrtenbart, ist Betriebsratsvorsitzender von Bosch Bamberg, einer der Gewerkschaftsvertreter im Bosch-Aufsichtsrat und ein guter Psychologe. Es ist nämlich nicht so, erzählt er, dass der Belegschaft der Ernst der Lage vor Augen stand. Nach dem letzten Tarifabschluss, der üppig ausfiel, verdienen sie hier so gut wie noch nie. Und gleichzeitig, wo deutlich weniger produziert wird, arbeiten wir so wenig wie nie, weil die Zeitkonten mit ihren Überstunden abgeräumt werden. „Wenn das Krise ist, dann bitte mehr davon!“, hörte Gutmann seine Leute sagen. „Die Leute reagieren erst dann, wenn es am Geldbeutel zu spüren ist.“ Bald wird es im Geldbeutel zu spüren sein. Und trotzdem ist Gutmann guter Laune.
Den Vertrag, den er mit ausgehandelt hat, nennt er „historisch“. Für einen Moment zieht Euphorie über die Flure der IG Metall, wo sich Mario Gutmann beim IG-Metall-Chef Matthias Gebhardt eingefunden hat. Inmitten der Unsicherheit ringsum ist Bosch Bamberg plötzlich wieder ein Fels – zumindest für sechs Jahre. Solange gilt die neue Betriebsvereinbarung. Ihre Kernpunkte: Bis 2026 werden betriebsbedingte Kündigungen für die Stammbelegschaft ausgeschlossen, die Azubis in gleicher Anzahl wie bisher ausgebildet und unbefristet übernommen. Außerdem investiert Bosch in Bamberg einen dreistelligen Millionenbetrag in die Industrialisierung der stationären und mobilen Brennstoffzellentechnik. Im Gegenzug wird die Wochenarbeitszeit ab April 2020 um drei Stunden verkürzt und damit verbunden der Lohn um etwa 8 Prozent verringert.
„Ein Abschluss, der vor einem Jahr nicht akzeptiert worden wäre“, ist Gutmann überzeugt. Als die Vereinbarung am 6. November auf einer Betriebsversammlung verkündet wurde, gab es Standing Ovations. Für die Verkündung von Lohnkürzungen dürfte das ein Novum gewesen sein. „Wir haben jetzt nicht sechs Jahre Ruhe, wir haben sechs Jahre Zeit zur Sicherung unserer Zukunft“, sagt Gutmann und skizziert die Perspektiven des Bamberger Werkes. Der Verbrenner könne, angetrieben mit synthetischen Kraftstoffen, in Zukunft einen Beitrag zur CO2-Reduktion leisten.
Überhaupt solle nicht die alte Technologie gegen die neue ausgespielt werden. Die Fokussierung der Politik auf E-Mobilität samt umfangreicher Subventionierung halte er für einen schweren Fehler. Gutmann hat für die Belegschaft Handzettel drucken lassen mit Diagrammen, Statistiken und griffigen Argumenten. Fazit: Das E-Auto ist nicht der Weisheit letzter Schluss, viel wichtiger sei Technologieoffenheit im Antriebsstrang. Gutmann ist unzufrieden, dass die ganze Diskussion vom E-Antrieb dominiert wird, der als „emissionsfrei“ gepriesen werden, obwohl auch E-Autos durch Produktion und Stromverbrauch die CO2-Bilanz ganz erheblich belasten. „Beim E-Auto wird jede Menge schöngerechnet“, schimpft Gutmann. „Und das ist Leuteverdummung.“
Der Antriebsstrang der Zukunft werde vielfältig sein – Diesel, Benziner, Hybrid, E-Auto oder Brennstoffzelle. Und da wird auch Bosch seinen Platz behaupten. Das Unternehmen kooperiere jetzt mit dem Lkw-Hersteller Nikola aus den USA, erzählt Gutmann. Über die Nutzfahrzeuge, ausgerüstet mit mobiler Brennstoffzelle, sei der Weg zur Pkw-Anwendung nur noch ein kleiner Schritt. Wichtig werde der Markteinstieg mit hohen Stückzahlen sein und dann sinkenden Kosten. Kurzum – es geht weiter bei Bosch in Bamberg.
Der Gewerkschafter: Denen geht es nur um die Rendite
Wenn Bosch einen Ausweg sieht, warum nicht auch Michelin? „Ich finde es lächerlich, immer von Krise, Krise, Krise zu reden“, echauffiert sich Matthias Gebhardt, der IG-Metall-Chef von Bamberg. „Die Firmen begründen die Stellenstreichungen zwar mit der Transformation, zumeist aber soll die Rendite hochgehalten werden.“ Mit gesellschaftlichen Folgen. Bei der bayrischen Landtagswahl 2018 ist die AfD im Bamberger Land mit 14 Prozent nach der CSU auf Platz zwei gekommen. In der Stadt Bamberg reichten der AfD gut 12 Prozent für Platz drei. Der Gewerkschafter ist alarmiert. „Wir wollen Undemokraten und Populisten keinen Einfluss geben auf unsere Leute.“ Dieser Hunger nach Rendite, dieser Druck, das habe sich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren geändert. „Und glauben Sie mir“, sagt Gebhardt, „das macht mit Menschen richtig was.“
Was das mit den Leuten macht, darüber kann Manfred Böhm etwas sagen. In seinem Holzfällerhemd wirkt Böhm wie ein Handwerker, dabei ist er Theologe und Leiter der katholischen Betriebsseelsorge in der Erzdiözese Bamberg. Gegenüber dem Bahnhof hat sie ihre Räume. Böhm beschreibt die Arbeit der Betriebsseelsorge als komplementär zu dem, was die Gewerkschaften anbieten – Teamentwicklung, Konfliktbewältigung, solche Sachen. Soft Skills, sagt Böhm. Als sie bei Michelin demonstriert haben, hat die Betriebsseelsorge eine Mahnglocke geschlagen. Und jedes Jahr im Oktober organisiert sie eine Arbeitnehmerwallfahrt nach Vierzehnheiligen, einer prächtigen Basilika im Obermainland.
„Wir begleiten Menschen“, sagt Böhm. Es gebe enorme Verunsicherung. Die Schnelligkeit, die mit dem Strukturwandel einhergehe, erzeuge Angst. So verstehe es etwa der Brose-Gesellschafter Michael Stoschek wie kein zweiter, diffuse Ängste zu verbreiten. Stoschek, Enkel des Firmengründers Max Brose, beabsichtigt, ein Werk in Serbien zu errichten, und schwärmt via Mainpost von den Personalkosten auf dem Balkan. Für seine fränkischen Werke hat der 72-jährige Milliardär hingegen einen Tipp aus dem Fitnessstudio: Man müsse wieder mehr trainieren und Fett in Muskelmasse umwandeln. 2.000 Stellen will Brose in Oberfranken streichen.
„So wird Druck auf dem Kessel erzeugt.“ Böhm ist erbost. Das mache die Leute krank. Das mache sie süchtig nach Tabletten. Die psychische Belastung steige, Mobbing nehme zu. Und das alles hat kaum etwas mit Transformation zu tun. Das hat tiefere Gründe. Böhm zitiert einen Satz auswendig – und er ist nicht aus der Bibel: „Den Druck der Finanzmärkte herunterzubrechen auf jeden einzelnen Mitarbeiter, das ist das Kunststück, das über das Überleben der Betriebe entscheiden wird.“ Der Gedanke stammt von Martin Kannegiesser, einst Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall und er hat ihn bereits vor 19 Jahren geäußert. Seine ganze Sprengkraft entfaltet er aber erst heute. „Der Neoliberalismus hat es geschafft, sich in unseren Köpfen einzunisten“, sagt Böhm. Wer aber die Köpfe hat, hat auch bald die Seelen.
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