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Krise im IrakPanische Massenflucht vor Islamisten

Rund 200.000 Menschen fliehen vor der Terrorgruppe „Islamischer Staat“. Teilweise brach Chaos aus. Die Lufthansa verlängert ihr Flugverbot für den Bereich.

Flüchtlinge erhalten humanitäre Hilfe in einem Auffanglager im Nordirak. Bild: dpa

MOSSUL dpa | Der weitere Vormarsch der Terrorgruppe Islamischer Staat im Norden des Iraks hat eine panische Massenflucht ausgelöst. Nach Angaben der Vereinten Nationen flohen rund 200 000 Menschen aus Angst vor der Schreckensherrschaft der Extremisten vor allem in das Sindschar-Gebirge im Westen der Großstadt Mossul. Die meisten Flüchtlinge waren Mitglieder der religiösen Minderheit der Jesiden. In den betroffenen Gebieten brach Chaos aus. „Die Bewaffneten bringen uns alle ohne Gnade um“, sagte ein Bewohner der dpa.

Die Lage der Flüchtlinge war katastrophal. In Sindschar entfalte sich eine „humanitäre Tragödie“, sagte der UN-Sonderbeauftragte für den Irak, Nikolaj Mladenov. Die Flüchtlinge bräuchten dringend Nahrungsmittel, Wasser und Medikamente, so die UN. Das Sindschar-Gebirge sei von IS-Militanten eingeschlossen.

Die Extremisten hatten am Wochenende nach heftigen Kämpfen kurdische Peschmerga-Kämpfer aus großen Gebieten nördlich und westlich von Mossul vertrieben. Die Terrorgruppe übernahm die Herrschaft in den Städten Sindschar und Samar sowie in mehreren weiteren Orten. Den größten Staudamm des Iraks, die Mossul-Talsperre, brachten sie nach einem Ultimatum an die Pechmerga kampflos unter Kontrolle, wie Quellen der kurdischen Einheiten berichteten. Zudem beherrscht die Terrorgruppe jetzt zwei weitere Ölfelder.

Die Lufthansa-Gruppe verlängerte ein selbst auferlegtes Flugverbot im Luftraum über den von den Aufständischen kontrollierten Gebieten. Die Regelung hatte zunächst nur für das Wochenende gegolten. Der Konzern erklärte bereits am Freitag, nach eigener Bewertung gegenwärtig keine Erkenntnisse für eine Gefährdung von Überflügen über den Irak zu haben.

Jesiden gelten als Ungläublige

Aber: „Mit diesem Schritt trägt die Lufthansa Group der Verunsicherung von Kunden und auch der eigenen Besatzungen Rechnung.“ „Nach erneuter Beratung mit den zuständigen Sicherheitsbehörden“ sollen Flüge ins nordirakische Erbil - unter Meidung der Krisengebiete - von Montag an aber wieder aufgenommen werden.

In den nun von IS-Kämpfern eroberten Städten und Orten wohnen mehrheitlich Kurden. Die Sindschar-Region ist ein Hauptansiedlungsgebiet der Jesiden. Die Gebiete gehören zwar nicht zur kurdischen Autonomieregion, standen aber zuletzt unter Kontrolle kurdischer Peschmerga-Kämpfer. Diese zogen sich nach heftigen Kämpfen mit den Extremisten aus der Region zurück. Bei den Zusammenstößen starben allein bis Samstag mindestens 77 Menschen.

Die Extremisten hätten etliche Menschen gefangen genommen, berichteten Einwohner. „Ich habe gesehen, wie die Bewaffneten die Menschen festgenommen haben“, sagte ein 25 Jahre alter Jeside der dpa. „Ich mache mir Sorgen um sie und fürchte, dass sie liquidiert werden.“

Die Flüchtlinge suchten auch in den benachbarten kurdischen Autonomiegebieten Schutz. Die Terrorgruppe betrachtet die Jesiden als „Ungläubige“. Irakische Medien meldeten, die sunnitischen Extremisten hätten zehn schiitische Kurden hingerichtet sowie schiitische und jesidische Schreine gesprengt.

Gewalt gegen Andersgläubige

Die kurdischen Peschmerga-Kämpfer schickten demnach Verstärkungen in das Gebiet, um Sindschar wieder zu befreien. Die Nachrichtenseite Shafaaq-News berichtete am Sonntag von neuen heftigen Kämpfen.

Die Terrorgruppe hatte Anfang Juni Mossul rund 400 Kilometer nördlich von Bagdad eingenommen. Sie beherrscht mittlerweile weite Gebiete im Norden und Westen des Landes. In den Regionen unter ihrer Kontrolle erlässt sie Gesetze nach einer sehr radikalen Interpretation des islamischen Rechts, der Scharia.

Gegen Andersgläubige geht sie mit rücksichtsloser Gewalt vor. Fast sämtliche Christen sind wegen der Verfolgung aus Mossul geflohen, nachdem IS-Extremisten ihnen den Tod angedroht hatten, sollten sie nicht zum Islam konvertieren.

Ende der Woche war die Terrorgruppe auch im benachbarten Syrien näher an die mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebiete herangerückt. Dort hatten die Extremisten einen Militärstützpunkt in der Nähe der Stadt Hasaka eingenommen.

Fast zwei Monate nach Beginn des Vormarsches der Extremisten im Irak hat sich in Mossul zuletzt jedoch auch sunnitischer Widerstand gegen die Terrorgruppe formatiert. Eine Gruppe mit dem Namen „Brigaden der Revolutionäre von Mossul“ tötete vor einigen Tagen mehrere IS-Kämpfer. Der Widerstand hatte sich gebildet, nachdem die sunnitischen Extremisten in den vergangenen Wochen mehrere bedeutende Moscheen und Grabmäler zerstört hatten.

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4 Kommentare

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  • D
    D.J.

    "In den Regionen unter ihrer Kontrolle erlässt sie Gesetze nach einer sehr radikalen Interpretation des islamischen Rechts, der Scharia. Gegen Andersgläubige geht sie mit rücksichtsloser Gewalt vor. Fast sämtliche Christen sind wegen der Verfolgung aus Mossul geflohen, nachdem IS-Extremisten ihnen den Tod angedroht hatten, sollten sie nicht zum Islam konvertieren."

     

    Es ist nicht mehr oder weniger als die normale traditionelle Scharia (also der Konsens der vier großen trad. sunnitischen Rechtsschulen). Und die sieht nun mal für (vermeintliche Polytheisten) oder für Atheisten kein Existenzrecht vor. Mit dem Unterschied, dass man, wenn es praktikabel war, in der islamischen Geschichte gern mal ein Auge zugedrückt hat (die zahlreichen Hindus z.B. konnte bzw. wollte man weder vollständig konvertieren noch vernichten).

    Auch hinsichtlich der Christen reine Scharia. Daher auch eine kleine Korrektur: Die Christen hätten auch die Kopfsteuer zahlen können und als ahl adh-dhimma, also "Bürger" minderen Rechts, in Mossul wohnen bleiben können. Doch es wohnten ohnehin nur noch ärmere Christen in der Stadt, die dieses Schutzgeld kaum hätten zahlen können. Und minderes Recht heißt z.B., nie gegen einen Musliim vor Gericht aussagen zu dürfen.

    Was mir jedenfalls wichtig ist: ISIS ist nicht einfach nur ein durchgeknallter Haufen, sondern sie kennen die Scharia sehr gut und nutzen deren Möglichkeiten konsequent.

    • @D.J.:

      "Auch hinsichtlich der Christen reine Scharia. Daher auch eine kleine Korrektur: Die Christen hätten auch die Kopfsteuer zahlen können und als ahl adh-dhimma, also "Bürger" minderen Rechts, in Mossul wohnen bleiben können."

      nein, diese möglichkeit wurde den christen hier nicht eingeräumt. von daher kennt sich der kalif nicht so gut mit der sharia aus.

      • @paulibahn:

        @D.J.

        „und die sieht nun mal für (vermeintliche Polytheisten) oder für Atheisten kein Existenzrecht vor.“

         

        Ist nicht zutreffend.

         

        Das wäre Rassismus, der in den Foren zu meinem Entsetzen propagiert wird. Dem in den Medien und Foren zu findenden Rassismus ist tödlicher als alle denkbarenIdeologien. Diesem Rassismus liegt biologischer, ethnischer, kultureller oder religiöser Determinismus zugrunde.

        Den Menschen werden aufgrund ihrer Herkunft bestimmte angeborene oder anerzogene, absolut unveränderliche angeborene oder anerzogene Eigenschaften zugeschrieben. Also auch anerzogene Eigenschaften sind demnach unveränderlich. Das macht den Rassismus unvergleichbar gefährlicher als alles Andere. Im Faschismus und im Islam gibt es zumindest eine theoretische Überlebenschance, ein theoretisches Entkommen; selbst zum Täter werden, Bereuen, konvertieren und was auch immer.

         

        Der Rassist jedoch lässt den Menschen keine Wahl, dem Rassisten kann ein Mensch nicht entkommen, da der Rassist unabhängig vom Individuum, nach seinem Essenz fragt und seine Existenz vernichten will, den Existenz verurteilt. Nur vor dem Hintergrund dieses Rassismusbegriffes war Holocaust möglich, weder Islam, noch Faschismus hätten eine derartige Vernichtung ermöglich. Erinnert sei nur daran, dass auch nationalsozialistische Juden vernichtet wurden.

         

        Und entsetzt stelle ich fest, wie in den Medien und in den Foren der Rassismus wieder virulent wird. Ich kann nur an menschliche Vernunft appellieren - inbegriffen mich – und dazu aufrufen, mit dem Thema „Islam“ anders – nicht sensibel - umzugehen.

  • warum berichtet Taz nicht über das Engagement von den YPG Brigaden. Sie stehen für Völkerfreundschaft, demokratische und autonome Selbstverwaltung und eine emanzipierte Gesellschaft. Die Frauen und Männer von verschiedenen Religionen und Ethnien kämpfen gegen die Fundementalisten und Faschisten. Fehlende Kompetenzen oder fehlende Interesse?