Kriminalitätsstatistiken: Nutzlose und irreführende Zahlen
Die Erhebungen über die Entwicklung von Straftaten in Deutschland sind nur Schein. Denn tatsächlich sammelt jede Dienststelle die Daten nach anderen Kriterien.
Regelmäßig im Frühjahr lädt das Bundesinnenministerium zu einer Pressekonferenz, um die aktuelle Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) vorzustellen. Je nach politischer Couleur und Eigeninteressen werden dabei die vom Bundeskriminalamt (BKA) zusammengestellten Zahlen polizeilicher Tätigkeitsdaten ausgeschlachtet.
Mitte Mai war es wieder so weit, und prompt machten Schlagzeilen wie „Deutschland ist ein Paradies für Einbrecher“, „Rekord an politisch motivierten Straftaten“ oder „Mehr Fälle von Kindesmissbrauch als im Vorjahr“ die Runde. Für Politiker immer der Moment zu öffentlichen Warnrufen und neuen Gesetzesinitiativen im Sicherheitsbereich.
Für Polizeigewerkschaften stets Anlass, wieder einmal gegen Sparmaßnahmen der Regierung zu wettern. Doch was sagen die PKS-Zahlen wirklich aus? Für den Kriminologieprofessor Wolfgang Heinz von der Universität Konstanz nicht allzu viel. „Das Einzige, was wir sicher wissen, ist, dass wir nichts wissen“, erklärte Heinz kürzlich auf einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin vor Politikern und Kriminalisten.
„Medienkriminalität“ nennt er das, was auf der Grundlage polizeilicher Statistiken in regelmäßigem Turnus veröffentlicht wird. In der Bevölkerung werde die Kriminalitätsentwicklung, insbesondere deren schwere Formen, hierdurch dramatisch überschätzt.
Deutsche Kriminologie
Seit 1981 ist Wolfgang Heinz in Konstanz als Professor für Kriminologie und Strafrecht tätig. Wörtlich übersetzt bedeutet Kriminologie die Lehre vom Verbrechen. Anders als in angloamerikanischen und skandinavischen Ländern, wo sie sich überwiegend sozialwissenschaftlich orientiert, ist die universitäre Kriminologie in Deutschland weitgehend den rechtswissenschaftlichen Fakultäten zugeordnet.
Für den „Blindflug“ in der Kriminalpolitik haben Heinz und weitere renommierte Kollegen gleich mehrere Faktoren ausgemacht. So werden bei der Kriminalitätsbekämpfung und Strafverfolgung gleich mehrere Statistiken mit unterschiedlichen Kriterien und an verschiedenen Stellen geführt.
Während das BKA die bundesweiten polizeilichen Ermittlungen in der PKS zusammenführt, werden die Entscheidungen der Staatsanwaltschaften über deren weiteren Verlauf vom Statistischen Bundesamt in einer Staatsanwaltschaftsstatistik erfasst.
Was davon schließlich an die Gerichte weitergegeben wird, erscheint in einer Justizgeschäftsstatistik der Strafgerichte. Die wiederum sagt nichts über die Prozessergebnisse aus, dafür gibt es extra eine Strafverfolgungsstatistik. Und natürlich gibt es auch für den späteren Strafvollzug drei eigene Statistiken.
Nur bedingt kompatibel
Sie alle werden ebenfalls vom Statistischen Bundesamt geführt; aber letztlich kompatibel sind all diese Statistiken – wenn überhaupt – nur bedingt. Dies hat Gründe: So fehlen in der PKS zum Beispiel die Verkehrsdelikte, eine bundesweite Strafverfolgungsstatistik gibt es erst seit 2007.
In gleich vier der neuen Bundesländer wird keine Maßregelvollzugsstatistik geführt und in Schleswig-Holstein wurde zwischen 1998 und 2003 kurzerhand die Staatsanwaltschaftsstatistik ausgesetzt, da es hierfür keine Rechtsgrundlage, sondern lediglich eine Verwaltungsvorschrift gibt.
Soweit bei dem Wirrwarr eine langfristige Aussage zur Kriminalitätsentwicklung in Deutschland überhaupt möglich ist, so sieht das Ergebnis nach Heinz Untersuchungen dann folgendermaßen aus:
Zunächst wird der mutmaßliche Anstieg der registrierten Kriminalität (laut aktueller PKS im Jahre 2011 um 1 Prozent auf 5,99 Millionen Straftaten) durch die folgenden staatsanwaltschaftlichen Verfahren wieder entkriminalisiert – zum Beispiel durch Verfahrenseinstellung oder Herabstufung zu einer Ordnungswidrigkeit.
Alarmismus der Sicherheitspolitiker
Welche Tat- und Tätergruppen dies jedoch betrifft oder was eventuell auf einer Änderung der Beurteilungsmaßstäbe beruht, lässt sich dabei nicht feststellen. So wurden etwa 2010 von rund 3,3 Millionen polizeilich aufgeklärten Verbrechenstatbeständen nur in 60.200 Fällen die Täter auch zu Gefängnisstrafen verurteilt, während sie in den übrigen mit anderen Sanktionen belegt wurden. Worauf diese Diskrepanz beruht, vermag Professor Heinz nicht zu sagen.
Während durch den alljährlichen Alarmismus der Sicherheitspolitiker so die öffentliche Kriminalitätswahrnehmung mit fast 30 Prozent deutlich über der tatsächlichen Entwicklung liegt, geht sie in Wahrheit zurück. So ist etwa der stets publikumswirksame Autodiebstahl („Kaum gestohlen, schon in Polen“) in den Jahren 1999 bis 2009 um 57 Prozent zurückgegangen, während er in der Einschätzung der Bevölkerung im gleichen Zeitraum 34 Prozent gestiegen ist.
Noch deutlicher beim Wohnungseinbruch (Wahrnehmung plus 43 Prozent, Rückgang minus 24 Prozent) oder bei Mord (Wahrnehmung plus 19 Prozent, Rückgang minus 38 Prozent). In etwa ähnlich verhält es sich bei Betrugsstraftaten, „Handtaschenraub oder Jugendstraftaten. Nirgendwo allerdings liegen Wahrnehmung und Wahrheit soweit auseinander wie bei den immer wieder erneut medienträchtigen Sexualmorden.
Während hier die Wahrnehmung um 56 Prozent gestiegen ist, liegt der tatsächliche Rückgang ebenfalls bei 56 Prozent. Besonders eindrucksvoll ist auch sein Forschungsergebnis zur Wirtschaftskriminalität, die im Jahr 2010 einen registrierten Gesamtschaden von 8,4 Milliarden Euro verursachte.
„Arbeitsnachweis ohne inhaltliche Bewertung“
Für 55 Prozent dieser gewaltigen Summe allerdings sind lediglich 3 Prozent der Täter verantwortlich. Es ist also nicht der Ladendieb, der hier die großen Schäden verursacht. Die weitgehende Nutzlosigkeit und Irreführung der PKS hat unterdessen offenbar auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) erkannt.
„Für uns Kriminalisten ist sie lediglich eine Strichliste, ein Arbeitsnachweis ohne inhaltliche Bewertung“, sagt etwa André Schulz, der BDK-Bundesvorsitzende, und bezeichnet sie als „jährliches Schaulaufen“ der Innenminister. Damit nicht genug, liegt das deutsche kriminalistische Erfassungssystem laut Heinz im Vergleich mit anderen EU-Staaten ohnehin weit hinter dem Stand zurück, den einige benachbarte Staaten aufweisen.
Unterstützung erhält er bei dieser Einschätzung von Professor Jörg-Martin Jehle von der Universität Göttingen. Zudem, fügt er an, seien die derzeitigen europäischen Statistiken insgesamt nicht vergleichbar, da Straftaten in den Rechtssystemen der verschiedenen Länder unterschiedlich gewertet würden.
Gegenwärtig arbeitet Jehle in einer europäischen Kommission mit, die diesem Mangel auf längere Sicht abhelfen soll. Ein Mammutunternehmen. Beide fordern, ebenso wie andere Kollegen, denn auch Optimierungen für das deutsche System. Notwendig seien neben weiteren Erfassungsdateien etwa eine bundesgesetzliche Grundlage für die gesamten Strafrechtsstatistiken, damit diese in den Länderhaushalten abgesichert werden und flächendeckend verfügbar werden.
Periodischer Sicherheitsbericht
Ebenso müsse eine fortlaufende Berichterstattung zur sogenannten inneren Sicherheit durch ein unabhängiges Wissenschaftlergremium geschaffen werden, deren Ergebnisse in einem periodischen Sicherheitsbericht festgehalten werden müssten. „80 Prozent aller notwendigen Daten sind bereits in diversen System vorhanden“, meint Professor Heinz.
Neben allen mit einer solchen Forderung zusammenhängenden und noch zu klärenden Datenschutzproblemen wäre dies ein Albtraum für die Sicherheits-politiker in Bund und Ländern: Dem „jährlichen Schaulaufen“ drohte ein Ende.
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