Theater über Sicherungsverwahrung: Als Nachtwächter recherchiert
Die Praxis des Maßregelvollzugs unterzieht das Freie Werkstatt Theater in Köln einer kritischen Kontrolle. Das ist informativ und spannend.
Wenn man die Zeitung liest, könnte man denken, in Deutschland werden permanent Kinder vergewaltigt. Tatsächlich ist die Zahl rückläufig. Nur die Zahl der für immer „Weggesperrten“ explodiert. Ein Projekt der Freien Werkstatt Theater Köln hat sich damit beschäftigt.
Seit 1995 ist die Verbrechensrate gesunken, aber man könnte mit Menschen in Sicherungsverwahrung und Maßregelvollzug eine Kleinstadt füllen. Ihre Kurve steigt steil nach oben – entlassen werden sie so gut wie nie.
Was ist also zwischen 1995 und 2012 passiert? Es war vor allem die Berichterstattung der Bild-Zeitung und darin exklusiv veröffentlichten Sprüchen wie die von Exkanzler Schröder: „Wegschließen, und zwar für immer“, bezogen auf Sexualtäter an Kindern.
Der markige Satz ist der Titel des dokumentarischen Theaterprojekts des Freien Werkstatt Theater Köln. Regisseur Nico Dietrich und Dramaturgin Inken Kautter sprachen während einer monatelangen Recherche mit Inhaftierten, Vollzugsbeamten und Forensikern.
10.000 in Sicherungsverwahrung
Vier Schauspieler nutzen in der Aufführung diese Interviews, während sie durch das Gebäude des freien Theaters führen. Sie tragen graue Business-Anzüge, die je nach Rolle ein wenig verändert werden: Schlips an, Hose aus, mal lässig hochgekrempelt, mal streng geschlossen. Auf der großen Bühne wird zunächst die Statistik mit Tennisbällen und Tierkäfigen illustriert: 10.000 Menschen in Deutschland leben in Sicherungsverwahrung und Maßregelvollzug, davon 3.000 in Entzugskliniken, 6.400 in forensischen Kliniken und 500 in Sicherungsverwahrung, sprich: auf unbestimmte Zeit weiter im Gefängnis.
Dann teilen sich die Zuschauer in Gruppen auf und steigen Treppen hinauf oder abwärts in Theater-Katakomben. Sie begegnen dort dem „Leiter Dezernat Bau für Maßregelvollzug in NRW“, dargestellt von einer knurrigen Petra Kalkutschke, die grinsend mit „Willkommen im Bau“ empfängt und erläutert, wie sehr Zahlen (und Kosten) der Verwahrten explodieren, immerzu neue Einrichtungen gebaut werden, kaum jemand entlassen wird, und scherzt: „Wenn das so weitergeht, ist bald ganz NRW sicherungsverwahrt.“
Die Schauspieler haben das Interviewmaterial nie im Video gesehen. Sie sind lediglich Zitatvehikel und entwickeln mit aberwitzigen Nebenhandlungen eine ironische Distanz zu ihren Figuren, die jeder Pseudobetroffenheit vorbaut.
Minijob als Nachtwächter
Im dritten Stock verwandelt sich Oleg Zhukow in einen „Nachtwächter im offenen Vollzug“ und erklärt uns das Regelwerk, nach dem Gefangene kurz vor ihrer Entlassung überprüft werden: jeden Abend Alkoholtest, bei der geringsten Verspätung Alarm. Der Job wird übrigens meist von Hartz-IV-Empfängern ausgeübt, pro Nacht gibt es 60 Euro, drei Schichten im Monat sind erlaubt – es machen ihn auch viele arbeitslose Schauspieler. Regisseur Nico Dietrich selbst hat sechs Monate zu Recherchezwecken als Nachtwächter gearbeitet.
Man trifft an diesem Abend Richter, Psychologen, Krankenpfleger (alle von Schauspielern verkörpert) in winzigen Ecken des Theaters, die Fakten prasseln uns um die Ohren und machen fassungslos: „Dreimal mehr Menschen werden in Deutschland durch Verkehrsunfälle als durch Verbrechen getötet – aber niemand will die Menschheit vor Autofahrern schützen“, sagt ein Strafrechtler. „Das deutsche Bedürfnis, Menschen präventiv einzusperren, ist zu verurteilen“, ergänzt ein Professor für Strafrecht.
Oder man sieht jenen Marburger Anwalt lässig einen Drink schlürfen, der – dargestellt von Rudolf Schlager in Shorts und Sonnenbrille – das große Urteil am Europäischen Gerichtshof in Straßburg angeschoben hat, dass die Praxis in Deutschland menschenrechtswidrig sei und ab Mai 2013 geändert werden muss.
Faktengefüllt und atemberaubend spannend
Doch am beeindruckendsten ist die Begegnung mit einem Mann, der zwischen Umzugskartons im Unterhemd sitzt und erzählt, dass er wegen des vierten Herzinfarkts nach dreißig Jahren Sicherungsverwahrung nun doch draußen ist. Dass er keine Strecke zweimal gehen kann, weil ihm nach jahrzehntelanger Fremdbestimmung der Orientierungssinn verloren ging.
Stets werden die Zitatgeber genannt, vor unseren Augen nehmen die Schauspieler die kontroversen Positionen im deutschen Strafrechtssystem ein und führen vor, dass etwas grundlegend falsch läuft. Der Abend ist faktengefüllt und zuweilen trocken, durch seine ironische Unterwanderung aber witzig und – atemberaubend spannend. Er eröffnet eine Welt, die man noch nie betreten hat.
Wie es um eine Gesellschaft bestellt ist, die ihre Gesetzgebung durch populistische Medien beeinflussen lässt und ein hochgepeitschtes Angstgefühl zur Basis für Menschenrechtsverletzungen macht, willkürlich Schicksale abschneidet, darüber muss man lange nachdenken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Neue israelische Angriffe auf Damaskus
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Russlands Nachschub im Ukraine-Krieg
Zu viele Vaterlandshelden