Kriminalität in Südafrika: Die andere Pandemie
Pro Stunde sterben in Südafrika drei Menschen durch Gewalt. Reiche Menschen beauftragen Security, um sich zu schützen. Doch was ist mit den Armen?
Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa nennt dies „eine zweite Pandemie nach Corona“ und verspricht erneut „mehr Training“ und „bessere Ausstattung“ für die Polizei, die, schlecht bezahlt, immer wieder in Korruption und Waffenhandel verstrickt ist. Und sie fehlt an allen Ecken und Enden: 2019 gab es nur etwa 193.00 Polizist*innen in Südafrika. Ihnen gegenüber standen rund 498.000 gut ausgerüstete Wachleute, die sich aber nur Wohlhabende und Unternehmen leisten können. Auf jede*n Polizist*in kamen also 2,5 private Sicherheitskräfte.
Doch nicht alle können sich ihre Sicherheit kaufen. Laut einem Weltbank-Bericht von 2019 ist Südafrika das Land mit der größten Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Demnach besitzen 10 Prozent der Bevölkerung mehr als 71 Prozent von Land und Wohlstand. 60 Prozent der armen Südafrikaner*innen müssen sich dagegen 7 Prozent an Besitz teilen. Für diese 60 Prozent, aber auch für weite Teile der unteren Mittelklasse, sind private Sicherheitskräfte keine Option. Was tun aber nun die, die sich keine Wachleute leisten können?
In Gegenden, wo eher mittelständische Menschen zwar eine Wohnung oder ein einfaches Haus besitzen, aber sonst keinen großen Luxus, haben sich Nachbar*innen oft zusammengetan zu sogenannten Neighbourhood Watches. Ausgerüstet mit Taschenlampe und Knüppel, erkennbar an ihren blauen Plastikwesten, patrouillieren sie nach Einbruch der Dunkelheit durch die Straßen. Sie halten an, wer „verdächtig“ wirkt, also unbekannt ist und ärmlich gekleidet. Gärtner*innen und Putzhilfen werden an die Neighbourhood Watch gemeldet, um ihnen auf ihrem Heimweg freies Geleit zu sichern.
Gewaltvolle Proteste im Jahr 2015
In Townships hingegen gibt es zuweilen sogenannte Straßenkomitees, in denen Nachbar*innen sich treffen, um Probleme gemeinsam anzugehen, wie zum Beispiel Müllabfuhr oder Straßenbeleuchtung oder auch Kriminalität. Zu Zeiten der Apartheid wurden hier auch politische Aktionen organisiert. Das ist heute eher die Ausnahme.
Der 71-jährige Themba M. aus dem Township Masiphumelele bei Kapstadt war Mitglied eines dieser Komitees: „Ich zog damals aus einem Dorf im Ostkap hier ins Westkap auf der Suche nach Arbeit. Jetzt bin ich alt, ich will zu Hause sterben. Hier ist es mir zu gefährlich geworden. Da kann auch unser Komitee nicht mehr gegen an.“
„Hier“ kam es 2015 zu mehreren Monaten voller gewaltsamer Proteste, nach dem Mord an einem 14-jährigen Jungen, dessen Name bis heute unvergessen ist: Amani Pula.
Lumka P. war damals selbst Teenager in der Nachbarschaft. „Amani war von einem Onkel, der mit Drogen handelte, vergewaltigt und ermordet worden“, erzählt der 24-Jährige. „Unsere Eltern und wir Jugendlichen kannten die Drogenhändler und hatten sie mehrfach bei der Polizei angezeigt. Die steckte aber mit den Kriminellen unter einer Decke und tat nichts. Da verloren einige von uns die Nerven und zündeten zwei Häuser von Drogenhändlern im Township an. In der Nacht darauf wurde einer von den Druglords erschlagen.“ Wer genau in die Brandstiftung verwickelt war, wer in die Lynchmorde, ob auch einzelne Personen aus dem Straßenkomitee involviert waren, ließ sich nie abschließend klären. Doch die meisten Menschen aus dem Township und den Komitees wollten gerade diese Art von Selbstjustiz verhindern.
Mit brennenden Reifen blockierten sie die Hauptstraße Richtung Kapstadt. Selbst die angeforderten Soldat*innen konnten keine Ruhe herstellen. Schließlich kamen erst das Fernsehen und dann die Politik, um mit den Protestierenden zu verhandeln. Die Forderungen waren bescheiden.
Mehr Sicherheit für alle
Eine eigene Polizeistation für das Township mit seinen mehr als 40.000 Bewohner*innen sollte her. Es war eine Forderung nach mehr Sicherheit für alle. Am Ende wurde ein Polizeibus mit zwei Polizist*innen zugesagt, die zumindest acht Stunden tagsüber anwesend sein würden. Die Maßnahme hat nur mäßigem Erfolg. Die Drogenhändler trauen sich zwar nicht mehr mit ihren teuren Autos in das Township, parken inzwischen aber wieder in der Nähe der Einfahrtstraße, von wo sie mies bezahlte Jugendliche mit dem „Stoff“ losschicken.
Drogen waren auch mit ein Grund, warum Kolumbien früher die Statistiken zur Gewaltkriminalität lange anführte. Seit gut zwei Jahrzehnten steht Südafrika an erster Stelle. Die Mordzahlen nehmen selbst weiter zu, gegenwärtig um 11,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – auf insgesamt fast 26.000 Morde im Jahr. Pro Stunde sterben in Südafrika drei Menschen eines gewaltsamen Todes.
Dass in Südafrika nicht alle Mordopfer gleiche Aufmerksamkeit erhalten, zeigt eine Woche im Oktober. Der Raubüberfall am 3. Oktober auf vier deutsche Touristen in der Nähe des Krüger Nationalparks, der zum Tod des 67-jährigen Fahrers Jörg S. führte, interessierte die internationale Presse. Die Tourismus-Ministerin Lindiwe Sisulu traf die drei Überlebenden; Polizeiminister Cele erschien umgehend am Tatort. Immer wieder betonten offizielle Stellen, dass es sich hier um „eine Ausnahme“ handeln würde.
Zwei Tage später, am 5. Oktober, wurden während eines Konflikts zwischen Gangs zwei Mitglieder ermordet. Sonst bekämpfen sich Drogenbanden oder Kleinbussyndikate, sogenannte Taxi-Gangs, eher auf eigenem Terrain in den großen Townships. Zu oft werden hierbei auch Unbeteiligte Opfer von Schießereien. Zu landesweiten Berichten kam es nur deshalb, weil sie an Kapstadts Luxusstrand Camps Bay am helllichten Tag „hingerichtet“ wurden.
Von den Medien unbeachtet hingegen blieb der Tod einer 21-jährigen Frau am darauffolgenden Abend, dem 6. Oktober. Auf dem Heimweg in Soweto griffen drei betrunkene Männer sie an, belästigten sie sexuell. Als die Frau sich wehrte, wurde sie erstochen. Nur durch einen Bekannten, der vergeblich versucht hatte, die Polizei zu alarmieren, erfuhr ich zufällig davon.
Morde wie an der jungen Frau werden inzwischen als „gewöhnlich“ angesehen – abends im Township und dann noch mit Alkohol im Spiel. Bei rund 70 Mordopfern pro Tag in Südafrika reicht das Mitgefühl der Öffentlichkeit einfach nicht. Polizeiminister Cele sieht „Armut, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit“ als Hauptursachen von Gewaltverbrechen.
Doch wer kümmert sich?
Unter den 15- bis 24- Jährigen liegt die Arbeitslosigkeit landesweit bei 64 Prozent, in Townships und armen ländlichen Gebieten bei bis zu 85 Prozent. Jedes Jahr schaffen zwar rund 900.000 junge Leute ihr Matrik (dem Abitur vergleichbar), doch die wenigsten Eltern können danach die teuren Studiengebühren zahlen. Stipendien gibt es nur wenige. Und an beruflichen Ausbildungen mangelt es auch.
Afrikanische Geflüchtete sind auch häufig unter den Opfern. Oft aus Simbabwe oder Somalia geflüchtet, werden sie von rechter Politik als „Konkurrenz“ um die wenigen Arbeitsplätze denunziert.
„Ich habe jetzt einen Job bei einer radikalen Partei“, sagt Sipho R. aus dem Township Nyanga bei Kapstadt. Seit vier Jahren ist er trotz gutem Schulabschluss arbeitslos. „Die Partei will alle Weißen enteignen in Südafrika – und zahlen ein Taschengeld, wenn wir ihre Zettel verteilen, auch wenn ich nichts gegen Weiße habe. Einige meiner Freunde klauen inzwischen. So weit bin ich noch nicht.“
Wie Sipho geht es vielen seiner Generation. Bei einer Bevölkerung von gut 60 Millionen Menschen stellen junge Leute zwischen 18 und 34 Jahren fast ein Drittel aller Südafrikaner*innen. Auch um sie wollen manche Straßenkomitees sich kümmern. Mandy P., die Mutter von Lumka aus Masiphumelele, wo der junge Amani ermordet wurde, setzt sich dafür ein.
Dazu wurde dort ein Straßenkomitee von früher aktiviert: „Wir alle lehnen Gewalt ab. Mein Sohn trommelt jetzt viermal pro Woche junge Leute zum gemeinsamen Sport zusammen – wie Fitness und Fußball. Vor Kurzem haben wir Geld gesammelt unter denjenigen von uns, die Arbeit haben. Jetzt haben sie sogar eigene Trikots und sind stolz drauf. Wenn der Staat es nicht schafft, müssen wir unserer Jugend Aufgaben geben. “
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann