Kriegserfahrungen der Eltern: Alles wurde zerstört
Durch den Krieg in der Ukraine erfahre ich häppchenweise Kriegsanekdoten von meinen Eltern. Daraus forme ich meine Familiengeschichte.
J ahrzehntelang habe ich meinen Cousin bei seinem Spitznamen gerufen, ohne zu wissen, das so der Wald heißt, in dem seine Mutter ihn auf der Flucht vor dem Bosnienkrieg geboren hat. Bei Familienzusammenkünften habe ich mich über die seltsame Tante gewundert, nur um 2015 bei den Nachrichten über den Syrienkrieg beiläufig von meinen Eltern zu erfahren, dass ihre Tochter vor ihren Augen auf dem Balkon von einer Granate zerfetzt wurde. Ich habe mich beschwert, warum meine Schwester und ich einen großen Altersunterschied haben, nur um irgendwann zu begreifen, dass es daran liegt, dass meine Eltern im Krieg jahrelang getrennt waren.
Mein Leben lang sprechen meine Eltern kaum über ihr Erlebtes und dann sind da Bilder aus Syrien, Afghanistan und jetzt aus der Ukraine und sie erwähnen häppchenweise Anekdoten aus unserer Zeit im Keller, im Krieg, auf der Flucht und ich forme daraus meine Familiengeschichte.
Trotzdem wollen die Bilder einfach nicht zusammenpassen: Meine Mutter, die die beste Pita der Welt macht, ist gleichzeitig die Frau, die sich mit mir im Arm vor dem Bombenhagel in Sarajevo versteckt hat. Mein Vater, der von Österreicherinnen für sein gebrochenes Deutsch verachtet wird, wurde mal wie die ukrainischen Männer jetzt als Held gefeiert, weil er sein Land verteidigt hat. Wie genau er es verteidigt hat, hat er nie erzählt.
Einmal hat ihm mein Essen nicht geschmeckt, da hat er im Spaß gesagt, das monatealte Weißbrot, das sie im Krieg in Wasser getränkt haben, war essbarer. Ein anderes Mal sagte er, die abgelaufenen Konserven, die ihnen als Hilfsgüter geschickt wurden, waren genießbarer. Das ist alles, was ich von seinen drei Jahren im Krieg weiß.
Keine zusammenhängende Geschichte
Vor ein paar Jahren habe ich Briefe gefunden, die sich meine Eltern aus dem Krieg geschrieben haben. Meine Mutter wollte nicht, dass ich sie lese. Ich habe nur ein paar gesehen, einen, in dem mein Vater schreibt, was für ein süßes Kind das auf der Postkarte wäre, die meine Mutter ihm geschickt hat – es war keine Postkarte, sondern ein Foto von mir.
Von mir, die ich heute vier Euro für Hipster-Kaffee ausgebe und Urlaub auf Bali mache und fast eines der Tausenden Kinder gewesen wäre, die im Bosnienkrieg ermordet wurden. Manche von ihnen ermordet, weil sie geweint haben. Ich habe nicht geweint, als die serbischen Soldaten den letzten Bus kontrolliert haben, mit dem meine Mutter und ich es aus Sarajevo rausgeschafft haben.
In der Ukraine wurde eine Kinderklinik angegriffen. „Das Krankenhaus, in dem du geboren wurdest, wurde auch zerstört“, sagt Mama. Wenn wir nach Sarajevo fahren, fühle ich mich mehr wie eine Kriegstouristin als ein Kriegskind. „Da habe ich gearbeitet, da haben wir gefeiert, da hast du deine ersten Schritte gemacht“, sagen meine Eltern und zeigen auf etwas, was ich nicht sehe – denn da ist nichts mehr. Alles wurde zerstört. Ich kann aus ihren Erinnerungen einfach keine zusammenhängende Geschichte basteln.
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