Krieg in der Ukraine: Todesängste im Korridor
Die ukrainische Hauptstadt Kyjiw und andere Landesteile sind erneut Ziel russischer Angriffe. Die Lage im AKW Saporischschja soll fragil sein.
Dieses Mal erzitterte der Boden mehrmals zwischen sieben und acht Uhr morgens. Kaum jemand hatte die Chance, einen Schutzraum aufzusuchen, also griff die von den Behörden für den Ernstfall empfohlene „Zwei-Wände-Regel“. Sie besagt, dass man bei Luftalarm zwei Wände, eine davon fensterlos, zwischen sich und draußen haben sollte. Das ist nur im Gang, im Bad und der Toilette der Fall.
„Ich hätte es wissen müssen“, klagt die 77-jährige Nadja, die nach dem ersten Einschlag zitternd den Gang aufgesucht hatte. An einer Stelle ist die Wand so dick, dass der Mobilfunkempfang nicht funktioniert. Dort wartet sie immer auf Entwarnung, wenn die Stadt mit Raketen und „Mopeds“, wie die Drohnen genannt werden, beschossen wird.
„Mein Telegram-Kanal hatte mich vor Raketen am Morgen gewarnt. Aber ich habe gedacht, es würde nicht Kyjiw treffen.“ Zudem hielten sich der Chef der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), Rafael Grossi und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell in der Stadt auf. „Auf die würden die Russen ja wohl nicht schießen.“ Insgesamt kamen bei den Angriffen auf Kyjiw mindestens vier Menschen ums Leben, 40 Personen wurden verletzt. Ziel von Angriffen waren auch andere Städte – darunter Mikolajiw, Charkiw sowie das Gebiet Lwiw.
Größtes AKW in Europa
IAEO-Chef Rafael Grossi dürfte zum Zeitpunkt des Angriffs Kyjiw schon in Richtung Enerhodar verlassen haben. Dort befindet sich das von russischen Truppen besetzte AKW Saporischschja. Es ist das größte AKW in Europa.
Dort sei die Lage, so Grossi am Dienstag vor Journalisten, „sehr fragil“. Insbesondere beunruhige ihn, dass die russische Verwaltung des besetzten AKWs seit dem 1. Februar Angestellten, die sich weigerten, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen und für die russische Betreiberfirma zu arbeiten, den Zugang zum Kraftwerk verwehre. Insgesamt, so der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko, gehe es um 400 lizensierte Mitarbeiter des AKW.
Es liege auf der Hand, dass diejenigen, die dieses Personal ersetzen würden, keine Lizenz hätten. Das werde die Arbeit beeinträchtigen, folglich auch den Betrieb dieser Anlage sowie die nukleare Sicherheit im Allgemeinen beeinträchtigen, sagte Haluschtschenko. Nach Angaben der IAEO arbeiten derzeit 4.500 Personen im AKW. Vor dem Krieg waren es 11.500.
Laut Grossi sei auch die externe Stromversorgung der sechs Reaktoren ein Problem. Acht Mal sei diese unterbrochen gewesen und das Kraftwerk nur mit Dieselgeneratoren betrieben worden. Der Zustand der Brennstäbe sei bedenklich. Deren sechsjährige Laufzeit werde demnächst enden. Die wichtigsten Fragen im AKW Saporischschja beträfen die technische Bewertung des Zustands des Kernbrennstoffs in den Reaktoren und die Frage des Personals, so Grossi.
Eigene Besonderheiten
„Die Frage der Entsorgung von Brennelementen haben wir bei unserem Treffen mit dem Minister und Vorstandsvorsitzenden von Energoatom, Petro Kotin, erörtert. Dieses Thema wird bei meinen Gesprächen mit der Kraftwerksleitung und der russischen Führung in Moskau an erster Stelle stehen“, sagte Grossi.
Er betonte, dass jeder Kraftwerksblock seine eigenen Besonderheiten und Laufzeiten des eingesetzten Brennstoffes habe.„Wir werden unsererseits auf einer möglichst gründlichen Bewertung des technischen Zustands bestehen“, sagte der IAEO-Generaldirektor.
Seit 2016 werden im AKW Saporischschja neben Brennstäben aus russischer Produktion auch Brennstäbe von der US-Firma Westinghouse, dem weltweit größten Hersteller von Kernbrennstoffen, eingesetzt.
Seit September 2022 ist ständig ein Expertenteam der IAEO im AKW vor Ort präsent. Kommende Woche wird Grossi nach Russland reisen. Oberste Priorität bei seinen Gesprächen in Moskau, so Grossi in Kyjiw, habe die Frage der Laufzeit der Brennstäbe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga