Krieg in der Ukraine: Freiheit, du Traum der 90er Jahre
Einst glaubte unser Autor, dass auch in der ehemaligen Sowjetunion Aufbruch und Freiheit möglich sind. Er fühlt sich getäuscht.
Das weiß ich jetzt: Die Sowjetunion, sie war nie tot. Sie hielt sich verborgen, in den Schädeln von Putin und Lukaschenko, in den Hirnen von „Patrioten“ und denen von Wirrköpfen im Donbass.
Ein einziges Mal war ich in der Sowjetunion. Das war im Oktober 1991. Ich wollte das Land von Gorbatschow kennenlernen. Der KPdSU-Generalsekretär hatte mein Leben verändert. Seit 1985 lagen so viele Hoffnungen auf diesem Mann. Er hatte das sowjetische Imperium in einen Ort der Hoffnung verwandelt. Das Politbüro mit seinen Greisen hatte keine Macht mehr. Die Jahre der Stagnation, unterbrochen nur von Terror nach innen und Einmärschen in benachbarte Länder, waren vorüber. Die KP-Greise wurden beerdigt. Der Spuk war vorbei. „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!“, hatten uns unsere Geschichtslehrer eingebläut. Jetzt gaben wir es ihnen lachend zurück.
Es war eine wunderbare Reise. Wir sausten mit der Raketa, einem Tragflächenboot, über den Dnjepr, wir herzten Babuschkas, tranken aus Brunnen und sangen, beseelt vom Wodka, „Abende an der Moskwa“. Der Himmel über Belarus leuchtete jeden Abend tiefrot. Wir waren übermütig, wollten bis zum Reaktor von Tschernobyl vordringen. Gott sei Dank hat man uns gestoppt. Und wir brummten mit unserem spärlichen Schulrussisch ewige Schwüre.
Fast hätte der Augustputsch unsere Reisepläne durchkreuzt. Noch einmal waren die Greise zurückgekehrt. Nach drei Tagen war alles vorbei. Als wir in Minsk am Lenindenkmal vorbeifuhren, wehte über der Stadt die weiß-rot-weiße Fahne des neuen Belarus. Es war aber noch die Sowjetunion. Ich hatte mit ihr kurz vor ihrem Ende, wie mit der DDR auch, meinen Frieden geschlossen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Ein Jahr später kehrte ich als Austauschstudent nach Minsk zurück. Ich wollte das Land kennenlernen, die Sprache, die Leute. Was habe ich für Menschen kennengelernt! Die Eltern von Oleg haben mich wie ihren Sohn aufgenommen. Eines Abends erzählte mir Olegs Vater Grigorij, wir hatten schon viel getrunken, dass seine Schwester von deutschen Soldaten erschossen wurde. Sie war beim Gänsehüten. Später erzählte mir mein Vater, dass er 1941 in Minsk war. Es macht mich heute manchmal noch fassungslos, was ich in Belarus erlebt habe.
Wir Jüngeren machten Pläne. Dima wollte seine Keramik in Leipzig verkaufen. Oleg seine Bilder. Jurij handelte mit Autoteilen. Artur bekniete mich, in Deutschland eine Importfirma zu gründen, und ich träumte davon, in Belarus ein Holzhaus zu kaufen. Unsere Augen leuchteten, die Welt war offen. Die Zukunft auch. Ihr Name hieß Freiheit.
Im August 1999, ich war wieder einmal in Minsk, tauschte Boris Jelzin seinen Ministerpräsidenten aus. Der neue hieß Putin. Oleg zuckte mit den Schultern. „Nie gehört.“ Das belarussische Fernsehen zeigte ein schmales, blasses Gesicht. Der Mann würde nicht lange bleiben. Jelzin, alt und unberechenbar geworden, hatte seine Regierungschefs zuvor immer schneller gefeuert.
Alexander Lukaschenko hatte da sein Land schon in die Spur gebracht. 1994 demokratisch gewählt, ließ er als Erstes die weißrussische Flagge einholen. Die neue sah der sowjetischen täuschend ähnlich. Zwei Jahre später gab er sich Vollmachten, die er in einem Referendum abnicken ließ. Einige meiner Freunde, sie waren Geschäftsleute geworden, hatten das Land verlassen. Nach ihnen wurde gefahndet. Gespräche mit ihnen, wenn es sie gab, waren ernst.
Dann lächelte Putin
Am 25. September 2001 hielt Wladimir Putin im Bundestag eine Rede. Eine Chance sei damals vertan worden, heißt es jetzt. Im vorigen Jahr habe ich sie noch einmal gehört. Wladimir Putin beeindruckte mit seinem Deutsch, sprach von Freiheit und europäischer Kultur, pries die Ressourcen seines Landes, auch das Verteidigungspotenzial, und sagte: „Russland ist ein freundliches europäisches Land.“ Dann lächelte er.
Schon ein Jahr zuvor gab es einen anderen Putin zu sehen. Im August 2000 war das Atom-U-Boot „Kursk“ gesunken, alle 118 Matrosen starben. Putin reiste wenig später zur UN-Vollversammlung. In einer Talkshow in New York antwortete er auf die Frage von CNN-Talkmaster Larry King: „Sagen Sie mir, was ist mit dem Unterseeboot passiert?“ – „Es ist untergegangen.“ Dann lächelte er.
Damals war Wladimir Putin wenige Monate Präsident, inzwischen sind es mehr als 22 Jahre. Ich überblicke die Zahl der politischen Morde und Anschläge nicht mehr, die inzwischen in Russland verübt wurden, die Blutspur zieht sich bis nach Berlin. Ich kenne auch die Zahl der Toten nicht, die Lukaschenkos Geheimdienst auf dem Gewissen hat.
2007 schlenderte ich mit meiner Frau Daria, einer Russin, die ich in Berlin kennengelernt habe, durch Moskau. Vorbei an der Tretjakow-Galerie, weiter zum Roten Platz. Der Kreml strahlte kalt in seiner Pracht. Im Unterschied zu 1992 war alles an der Fassade restauriert. Im Inneren allerdings auch.
Als Wladimir Putin 2014 die Krim annektierte, schrieb ich einen wütenden Kommentar. Ich hatte die Krim 2011 mehr als zwei Wochen lang bereist, viele Krimtataren kennengelernt und war begeistert von ihrem Elan, ihre alte Heimat wiederaufzubauen. Seit der Annexion verfolgen Putins Geheimdienste genau diese Menschen.
Ein Jahr später, wir besuchten zum ersten Mal mit unseren beiden Söhnen die Oma und die Verwandtschaft im Ural, haben wir zehn Tage lang nicht über Politik geredet. Als die Männer sich als glühende Patrioten präsentierten und von der Krim schwärmten, biss ich mir auf die Lippen. Ilja, mein Ältester, wurde von seinem Großonkel in einem Freizeitpark in einen Schießstand geführt. Er war sieben.
Und Minsk? Jahre hatte ich meine Freunde nicht gesehen, als ich 2017 aus dem Flugzeug stieg. Nur zu Oleg war die Verbindung nie abgerissen. Wir hatten uns angewöhnt, am Telefon über Lukaschenko zu schweigen. Ich wollte Oleg nicht gefährden. Am Tag der Ankunft wurde in Minsk für eine Parade geprobt. Panzer verstopften die Straßen. Minsk war herausgeputzt. Trotzdem waren es trübe Tage. Oleg, Jurij, Witali – sie hatten Familien, Kinder, Häuser. Aber ihre Hoffnungen? Lukaschenko hatte sich eine gewaltige Residenz errichtet. Mit dem Geld hätte er alle Krankenhäuser ausstatten können, sagt Oleg und winkt ab.
Die Jungs von damals waren, wie ich auch, älter geworden. Doch sie hatten auch ihre Hoffnung verloren. Freiheit, das war nur ein Traum in den neunziger Jahren. Lukaschenko hat einer ganzen Generation das Leben gestohlen.
Einem Raketenschießen beiwohnen
Vor einer Woche habe ich ihn bei Putin gesehen. Es wirkte, als wäre Ulbricht bei Breschnew zu Gast. Sie haben einem Raketenschießen beigewohnt. Und am Montag, Putin hatte sich vollends in Kriegsstimmung gebracht, waren auch die alten Männer wieder da. Das Politbüro heißt nun Sicherheitsrat. Seine Mitglieder, Lawrow, Naryschkin, Schojgu, versammelten sich in der alten, neuen Zwingburg und waren so versteinert wie eh und je.
Ist es ein Zufall, dass ich Michail Gorbatschow vor Kurzem in einer Doku erlebt habe? Ein gebrochener, einsamer Mann, der in Moskau in einer Staatsvilla haust und sich in Flüchen ergeht.
Donnerstag früh habe ich meinem Sohn Ilja, er ist 14, gesagt, dass heute die russische Armee die Ukraine, ein unabhängiges Land, überfallen hat. So wie Hitlerdeutschland 1939 in Polen einmarschierte. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas noch einmal geschehen könnte. Und Daria hätte nie gedacht, dass sie sich einmal so für ihr Land schämen wird. Ich bin 57 Jahre alt. Das Ende der Sowjetunion werde ich nicht mehr erleben.
Meine Söhne schon.
Vielleicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland