Krieg in Nordsyrien: Auf der Flucht vor Assads Bomben
Im letzten Rebellengebiet hat eine Offensive der syrischen Regierung fast eine Viertelmillion Menschen vertrieben. Hilfe gibt es für die wenigsten.
Über 235.000 Menschen – genau gezählt: 46.184 Haushalte – sind dort nach neuesten Angaben der humanitären Koordinationsstelle der Vereinten Nationen (Ocha) vom 26. Dezember seit dem 12. Dezember in die Flucht getrieben worden – in bereits überlastete Gebiete weiter nördlich nahe der türkischen Grenze, wo die Versorgung jetzt schon nicht ausreicht.
Es ist erst der Anfang. Die UN-Helfer rechnen mit insgesamt 350.000 neuen Vertriebenen in allernächster Zeit. 400.000 wurden bereits seit Beginn der Kämpfe um Idlib Ende April in die Flucht getrieben. Ohnehin sind die Hälfte der drei Millionen Einwohner des Rebellengebiets um Idlib, mit rund 9.000 Quadratkilometern etwa so groß wie Korsika oder Zypern, Flüchtlinge aus anderen Teilen Syriens.
Sie wurden in den vergangenen Jahren beispielsweise aus Aleppo oder der Ost-Ghouta bei Damaskus nach Idlib gebracht, als die Regierung ihre Städte und Dörfer eroberte, meist nach monatelangem Aushungern und wochenlangen Luftangriffen.
Jetzt sind sie erneut auf der Flucht. Die Grenze zur Türkei ist dicht – mit dem Segen Europas. Die Beobachtungsposten der türkischen Armee in Syrien schützen die Menschen nicht. Über 5.000 Zivilisten sind den Luftangriffen seit April nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zum Opfer gefallen. Die zerstrittenen Rebellen halten nur an der Westfront ihres Gebietes stand; im Südosten sind in den vergangenen Wochen mehrere hundert Quadratkilometer verloren gegangen.
„Ma’arrat An Nu’man und Umgebung sind jetzt fast menschenleer, was Zivilisten angeht“, heißt es im jüngsten Ocha-Lagebericht vom 26. Dezember. Der drei Tage zuvor erschienene Bericht führte aus: „Viele der vertriebenen Familien sind mehrere Tage lang aus der Luft angegriffen worden und gingen das Risiko ein, eine Straße zu benutzen, die regelmäßig bombardiert und beschossen wird.“
Am 23. Dezember bestätigten die UN-Helfer noch 130.000 Fliehende, drei Tage später bereits 235.000. Tausende weitere Familien würden die Flucht nicht wagen – aus Angst, dass es kein Benzin mehr geben könnte oder weil sie nicht mehr können.
„Der andauernde Beschuss und die Luftangriffe im Süden Idlibs, vor allem auf zivil besiedelte Gebiete, bedrohen das Leben von Frauen, Männern, Mädchen und Jungs, haben zu einer erheblichen Zahl von Toten und Verletzten geführt, einschließlich Kindern, und die psychosoziale Gesundheit von Kindern und ihren Fürsorgern erheblich beeinträchtigt“, so das unterkühlte Fazit des UN-Berichts. Die meisten Helfer – lokale Partner der in der Türkei ansässigen UN-Hilfswerke – sind selbst auf der Flucht.
Ohne Zelt bei Dauerregen
„Wie in der Steinzeit“ seien die Bedingungen, fasst das Hilfswerk Refugees International die Lage vor Ort zusammen: „Die Menschen rennen um ihr Leben und finden sich im kalten Winter unter freiem Himmel wieder.“
Stadtbewohner suchen Zuflucht in anderen Städten und lassen sich nieder, wo sie können: in Moscheen, Schulen, Festhallen, Garagen, oder einfach auf der Straße. Andere begeben sich an die Ränder existierender Flüchtlingslager und hoffen, dass sie irgendwann ein Zelt und etwas zu essen bekommen – mitten im Winter.
„Das Wetter und der Dauerregen gehören zu den größten Herausforderungen“, so Ocha. Manche Flüchtlingslager würden halb unter Wasser stehen, andernorts würden die Menschen im Schlamm und im Regen kampieren. Viele Familien brechen immer wieder neu auf, ohne zu wissen, wo sie bleiben können – samt Babys, Kleinkindern, Alten und Kranken.
Selten geworden sind sauberes Wasser und medizinische Versorgung. In bewährter Manier bombardieren die syrischen und russischen Luftwaffen gezielt Krankenhäuser und Gesundheitszentren, obwohl – oder gerade weil – ihnen deren Koordinaten von der UNO übermittelt worden sind.
140.000 Kinder unter den Flüchtenden
Das syrische Ärztenetzwerk SAMS zählt seit Ende April 72 Luftangriffe auf 51 Gesundheitseinrichtungen. Mehrere große Krankenhäuser mussten den Betrieb komplett einstellen. Mobile Kliniken arbeiten unter unzumutbaren Bedingungen, eine verlässliche Medikamentenversorgung gibt es nicht.
Die meisten Flüchtlinge haben keine Möglichkeit, Essen zuzubereiten, und müssen mit Fertigmahlzeiten statt Lebensmittelvorräten versorgt werden. Aber nur ein Drittel der neuen Vertriebenen wird laut Ocha derzeit versorgt. Unter den Fliehenden sind den Berichten zufolge 140.000 Kinder, die Hälfte davon unter fünf Jahre alt, und mehrere tausend Schwangere.
69 schwerst unterernährte Kinder und 276 akut unterernährte Mütter wurden bislang identifiziert, Zehntausende von Frauen und Kindern müssen mit lebensrettender Nahrung, wie sie ansonsten in schweren Hungersnöten zum Einsatz kommt, am Leben gehalten werden. All das wird zumeist eher improvisiert. „Arbeit zum Aufbau lebensrettender Nahrungsvorräte wird mindestens zwei Wochen dauern“, vermeldet Ocha. „Es könnte zu Ausfällen kommen, wenn Waren nicht innerhalb der nächsten Woche eintreffen.“
Nicht nur aus diesem Grund ist die Massenflucht in Idlib ein Wettlauf gegen die Zeit. Humanitäre Hilfe innerhalb des UN-Systems ist in Ermangelung einer Erlaubnis der syrischen Regierung – die keine unabhängigen Hilfsaktivitäten in ihrem Land zulässt – nur dank einer jährlich erneuerten UN-Resolution von 2014 möglich. Sie legt fest, über welche syrischen Grenzübergänge Hilfsgüter geliefert werden dürfen, und fordert Berichte darüber an. Am 19. Dezember scheiterte die Routineerneuerung am Veto Russlands und Chinas.
Die geltende Autorisierung der Hilfe endet am 10. Januar 2020. Sollte bis dahin keine Lösung gefunden worden sein, dürfen die Menschen in Idlib streng genommen danach nicht mehr von außen versorgt werden. Von allen humanitären Katastrophen, die Syriens Bevölkerung in den vergangenen Jahren erleiden musste, wäre das die größte.
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