Krieg in Bergkarabach: Die Menschen fürchten um ihr Leben
Die humanitäre Lage in Bergkarabach ist katastrophal. Doch die Details bleiben unklar. Denn Aserbaidschan lässt keine unabhängigen Beobachter einreisen.
Die Streitkräfte Bergkarabachs, ohnehin personell wie materiell schwach ausgestattet, hatten bereits am Mittwoch kapituliert. Auch die russischen Friedenstruppen spielen offenbar keine relevante Rolle mehr.
Immer wieder kommt es zu Strom- und Internetausfällen, die die überaus schwierige humanitäre Lage der seit neun Monaten isolierten Region weiter verschärfen. Berichten zufolge ist das Zentrum Stepanakerts voller Geflüchteter und Vertriebener aus den umliegenden Gebieten sowie der Stadt selbst, die vielfach auf der Straße schlafen.
Auch in Kirchen und Schulen übernachten Menschen, viele in Bunkern und Kellern. Zuvor hatten sich Tausende Armenier auf dem russisch kontrollierten Flughafen Stepanakert versammelt und auf Evakuierungsflüge gehofft, solche gab es bisher nicht.
Sorge vor ethnischer Säuberung wächst
„Aserbaidschan blockiert das Internet und Strom, wir wissen nicht was vor Ort passiert, ob es Säuberungsoperationen gibt oder andere Aktivitäten. Auf jeden Fall ist der Kontakt abgebrochen und die Menschen fürchten um ihr Leben“, sagt Stefan Meister, Politikwissenschaftler an der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Der Latschin-Korridor, Bergkarabachs Lebensader und einzige Verbindung nach Armenien und dadurch auch zum Rest der Welt, wird Berichten zufolge weiterhin von aserbaidschanischen Soldaten blockiert. Die rund 100.000 Bergkarabach-Armenier hatten bisher kaum Chancen zu fliehen, da humanitäre Korridore bislang fehlten. Am Sonntagnachmittag erreichte nun eine erste, kleine Gruppe Geflüchteter aus Bergkarabach Armenien über den Landweg.
Am Samstag sind immerhin größere Hilfstransporte von Weizenmehl, Salz, Hefe und Öl in Bergkarabach angelangt, wie das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) berichtet. Schon zuvor habe das Rote Kreuz Diesel und Benzin, Decken und medizinische Artikel gebracht.
23 Personen, die in den Kämpfen verletzt wurden, habe das ICRC evakuiert. Auch mehrere Leichname getöteter Menschen habe das Rote Kreuz auf Wunsch von Familienangehörigen geborgen. Mittlerweile hat das ICRC auch mit der Registrierung vermisster bzw. gesuchter Personen begonnen. Ein Video von Samstagabend zeigt außerdem ein provisorisches Massenbegräbnis in Stepanakert.
Aserbaidschan bricht weiter den Waffenstillstand
Der Beschuss durch aserbaidschanische Artillerie geht vereinzelt weiter. Samstagmorgen hat sie einen Stützpunkt der russischen Friedenstruppen bei Stepanakert getroffen. Ein Video zeigt eine Rauchwolke über der Basis, in der offenbar russische Munition gelagert wurde. Der Angriff war offenbar auch in einem Telefongespräch zwischen Wladimir Putin und Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew Thema. Alijew habe sich dafür entschuldigt.
Schon am Dienstag, am Anfang der Kampfhandlungen, hat die aserbaidschanische Armee vier oder fünf russische Friedenstruppen getötet, die in einem Auto unterwegs waren. Unter den Opfern war auch ein hochrangiger Marineoffizier.
Unterdessen besteht weiterhin große Sorge vor gewaltsamer Vertreibung bis hin zu Massenmorden an der Lokalbevölkerung. Die Führung Aserbaidschans macht kaum einen Hehl aus ihren revanchistischen Motiven, bezeichnete Armenier als „Parasiten“ und „Ungeziefer“. Das ist auch der Tenor in den Massenmedien des Landes sowie in den Sozialen Netzwerken. Schon im Krieg 2020 kam es zu großen Menschenrechtsverletzungen, Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty berichteten von Folter.
Südkaukasus-Experte Meister sieht das mit großer Sorge: „Kein Armenier ist sicher auf dem Territorium Aserbaidschans, es gibt Rachegefühle und systematische Racheakte vor allem an der männlichen Bevölkerung können nicht ausgeschlossen werden.“ Anfang der der 1990er Jahre war es Armenien gewesen, das den Ersten Bergkarabach-Krieg haushoch gewonnen hatte und die aserbaidschanische Bevölkerung teils mit großer Brutalität vertrieb.
Auch Kulturdenkmäler wie Kirchen in großer Gefahr
Aserbaidschan dürfte Meister zufolge einen Deal mit Russland haben, welches die Sicherheit für die Zivilbevölkerung offenbar nicht länger garantieren wolle. „Ich gehe davon aus, dass es zu Massenflucht und Massenvertreibung kommt. Alle Kulturdenkmäler, Kirchen und Klöster werden wohl abgetragen, so wie wir das aus der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan kennen.“
Der Ombudsmann der international nicht anerkannten Republik Arzach – so bezeichnet sich Bergkarabach, das sich 1991 von Aserbaidschan loskämpfte und seitdem autonom verwaltet wird, selbst – spricht von expliziten Folter- und Mordaufrufen in aserbaidschanischen Telegram-Kanälen. Offenbar kursieren Listen mit den Namen von Männern, die in den letzten Karabachkriegen (1991 bis 1994, 2020) aufseiten Bergkarabachs kämpften. Es waren Tausende.
Generell mangelt es an Informationen, es gibt keine unabhängigen oder internationalen Journalisten vor Ort und immer wieder Internetausfälle.
Eine Frau aus Bergkarabach gab an, aserbaidschanische Truppen hätten bei ihrem Einmarsch in Stepanakert ihre Kinder vor ihren Augen enthauptet. Andere berichten von völlig zerfetzten Körpern, die in den heillos überlasteten Krankenhäusern ankämen. Viele dieser Berichte lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen. Das Gesamtbild ist aber katastrophal.
Vorstoß auf armenisches Staatsgebiet befürchtet
Wie konnte es dazu kommen? Meister sieht Fehler vor allem in der Vergangenheit, bei einem fehlenden Friedensvertrag noch vor dem zweiten Krieg 2020. „Armenien hätte von seinen maximalistischen Forderungen, alles zu behalten und sich auf russische Schutzmacht zu verlassen, abrücken müssen, um nicht in dieser Sackgasse zu landen. Premier Paschinjan war davon bereits abgerückt, aber große Teile der Elite und Teile der Gesellschaft wollten die Realität nicht sehen.“
Stefan Meister, DGAP
Der Westen sieht alldem weitestgehend passiv zu. Was zu tun wäre, scheint auf der Hand zu liegen: Es müsse etwa uneingeschränkten Zugang für Hilfsorganisationen sowie einen humanitären Fluchtkorridor geben, schreibt das Regional Center for Democracy and Security, ein Think-Tank in der armenischen Hauptstadt Jerewan. Medienvertretern müsse der Zugang gewährt werden, die aserbaidschanische Armee sich aus zivil bevölkerten Gebieten zurückziehen, heißt es unter anderem weiter.
Experte Stefan Meister befürchtet weitere Vorstöße Aserbaidschans, über Bergkarabach hinaus, auf armenischem Gebiet. „Aserbaidschan will den Korridor zur Exklave Nakhichevan und weiter Richtung Türkei unter Kontrolle bekommen. Russland hat kein Problem damit, Baku fühlt sich stark und ist militärisch überlegen. Wenn der Westen nicht klar abschreckt, dann ist das nicht auszuschließen.“
Davon ist bis dato nichts in Sicht. EU und USA müssen sich eingestehen, dass ihre monatelangen Vermittlungsversuche erfolglos waren. Es wurde versäumt, Verhandlungsdruck gegenüber beiden Konfliktparteien aufzubauen, sagt Meister. Am Donnerstag konnten sich die EU-27 wegen einer Blockade Ungarns nicht einmal auf eine gemeinsame Verurteilung Aserbaidschans einigen.
Sanktionen des Westen bleiben weiterhin aus
Infolge der aktuellen Eskalation hat die EU 500.000 Euro an humanitärer Unterstützung für Bergkarabach angekündigt. Dies ist aber nur ein kleiner Bruchteil jenes Gelds, das die EU für Gas aus Aserbaidschan ausgibt. Im Juli 2022 gab die EU-Kommission bekannt, die milliardenschweren Importe bis 2027 mehr als zu verdoppeln.
Eben diesen Hebel will die EU aber nicht benutzen, Sanktionen des Westens bleiben weiterhin aus. Die Menschen in Bergkarabach ahnen, dass ihnen niemand zu Hilfe kommen wird, sollte es zum äußersten kommen. Weil niemand – keine Diplomaten, Journalisten, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen – einreisen darf, bliebe es sogar weitgehend unbeobachtet.
Alijew kümmert sich derweil um Anderes: Auf dessen Einladung soll der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Montag Nakhichevan besuchen.Es mehren sich Befürchtungen, dass es bei dem Treffen um die Schaffung des Korridors durch Südarmenien gehen soll.
Mitarbeit: Lisa Schneider
Hinweis: Nachdem eine erste Gruppe Geflüchteter Armenien am Sonntagnachmittag auf dem Landweg erreichte, haben wir das im Text aktualisiert. Zum Treffen in Nakhichevan haben wir Kontext hinzugefügt und einen Fehler korrigiert.
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