Krieg in Äthiopien: Im Ausnahmeszustand
Äthiopiens Tigray-Rebellen rücken auf Addis Abeba vor. Dort gibt sich Premier Abiy Ahmed Sondervollmachten und will den Feind davonjagen.
In anderen Chats in den sozialen Medien raten sich Tigrayer in der äthiopischen Hauptstadt gegenseitig, ihre Telefone möglichst von kompromittierenden Inhalten zu säubern, bevor sie beschlagnahmt werden. Ein anderer User hält dagegen: „Wir werden alle dreckigen Tigray-Schlangen wegputzen, ihr seid alle gleich.“
Eine brutale Endzeitstimmung scheint zumindest in Teilen der Fünf-Millionen-Metropole Addis Abeba aufzukommen, seit Tigrays Rebellen von Norden aus immer näherrücken. Die Einnahme der jeweils eine halbe Million Menschen zählenden Städte Dessie und Kombolcha, 400 Kilometer nördlich, durch die Rebellen der TPLF (Tigray-Volksbefreiungsfront) am vergangenen Wochenende scheint nicht nur militärisch, sondern auch psychologisch ein Wendepunkt gewesen zu sein.
Dessie und Kombolcha sind zwei wichtige Verkehrsknotenpunkte tief in der Region Amhara. Die dortigen Behörden sind besonders radikal gegen Tigray eingestellt, dessen Territorium sie zum Teil beanspruchen. Sie wollten mit Jugendmilizen und einer allgemeinen Mobilmachung die Stellung gegen die TPLF halten. Doch dies gelang nicht – als Nächstes könnten die Rebellen die wichtigsten Fernverkehrswege Äthiopiens abschneiden, die Addis Abeba mit Dschibuti am Roten Meer verbinden.
Berichte über Massenverhaftungen häufen sich
Zugleich regen sich nahe Addis Abeba Rebellen des Oromo-Volkes, die in der OLA (Oromo-Befreiungsarmee) organisiert sind – eine alte Guerillaorganisation, die jetzt durch TPLF-Hilfe zu neuem Leben erweckt wird. OLA-Truppen beherrschen Teile der Region Oromia rings um Addis Abeba und könnten jederzeit weitere Straßenverbindungen kappen. Die Hauptstadt soll belagert werden, um die dortige Regierung zum Einlenken zu zwingen, damit sie die Hungerblockade Tigrays und die Hetze gegen Tigrayer beendet.
Die Regierung aber denkt überhaupt nicht daran. Am Dienstag verhängte sie den Ausnahmezustand über das 120 Millionen Einwohner zählende Äthiopien. Ministerpräsident Abiy Ahmed bekommt somit unbeschränkte Vollmachten: Eine neue Kommandozentrale der Streitkräfte, die Abiy Ahmed untersteht, kann ab sofort alle Verwaltungseinheiten suspendieren, alle Bürger ohne Gerichtsbeschluss verhaften, alle Erwachsenen zum Militärdienst abholen, alle Kommunikations- und Verkehrswege sperren, alle Medien und Organisationen verbieten. Weiter heißt es: „Gegen die Ziele der Kommandozentrale zu sein ist verboten.“
Seitdem häufen sich Berichte über Massenverhaftungen von Tigrayern in Addis Abeba. Bewaffnete gehen von Tür zu Tür: Tagelöhner, Soldaten, Geschäftsleute, sogar Mönche werden verschleppt. Ihre Freunde befürchten das Schlimmste. Die Warnung „Tigray Genocide“ macht die Runde. Der Äthiopien-Forscher René Lefort hat Hassreden von Regierungsanhängern gesammelt, vor allem von Scharfmachern der Region Amhara: „Man muss Tigrayer, auch solche ohne TPLF-Verbindung, in Konzentrationslagern sammeln“, lautet eine. „Reißt die Disteln aus, auch wenn euch das traurig macht“, eine andere.
Abiy Ahmed selbst hielt am Mittwoch, genau ein Jahr nach Beginn des Krieges zwischen Äthiopiens Zentralregierung und der damals noch von der TPLF gestellten Tigray-Regionalregierung, eine finstere Rede vor seinen Generälen. „Wir werden den Feind mit unserem Blut begraben“, sagte er der Nachrichtenagentur Reuters zufolge. „Die Grube wird sehr tief sein.“
Gewinnen kann Abiy Ahmed die Konfrontation nicht mehr
Die Kriegshetze und Untergangsstimmung macht vielen Äthiopiern Angst. Unbestätigten Berichten zufolge sind die Flüge aus der äthiopischen Hauptstadt ins Ausland voll. Die US-Botschaft hat ihre Bürger zum Verlassen des Landes aufgefordert. Einigen Berichten zufolge wird bereits der Abgang Abiy Ahmeds ins Exil sondiert. Die Alternative, so fürchten Beobachter von beiden Seiten: Häuserkämpfe in Addis Abeba und blutige ethnische Massaker, so wie sie den Krieg im Norden des Landes schon seit einem Jahr kennzeichnen – mit Gräueltaten auf beiden Seiten.
Gewinnen kann Abiy Ahmed die militärische Konfrontation nicht mehr. Die TPLF ist eine der ältesten und erfolgreichsten Rebellenarmeen der Welt. 1991 rückte sie schon einmal als Guerilla aus den Bergen Tigrays bis nach Addis Abeba vor. Der kommunistische Militärdiktator Mengistu Haile Mariam, der Äthiopien mit Zwangskollektivierung in eine verheerende Hungersnot getrieben hatte, floh.
Die TPLF übernahm die Macht an der Spitze einer föderalen Staatspartei, der „Revolutionären Demokratischen Front der Äthiopischen Völker“ (EPRDF). Das EPRDF-Regime wurde selbst zur Diktatur, mit der TPLF am Kern. Nach mehrjährigen Massenprotesten rückte im April 2018 EPRDF-Minister Abiy Ahmed von der historisch marginalisierten Oromo-Volksgruppe in das Amt des Ministerpräsidenten. Er startete spektakuläre Reformen: Öffnung der Gefängnisse, Freiheitsrechte, Frieden mit Eritrea, gekrönt 2019 durch den Friedensnobelpreis.
Danach ging es bergab. Abiy Ahmed löste die EPRDF auf und ersetzte sie durch die „Wohlstandspartei“ (PP) unter seiner alleinigen Führung. Die alte Garde der TPLF machte nicht mit. Sie brach mit Abiy und ließ sich durch eigene Wahlen in Tigray an der Macht bestätigen. Als Abiy Ahmed das nicht akzeptierte, kam es Anfang November 2020 zum Krieg.
Jedoch haben die TPLF-Generäle, der historische Kern der äthiopischen Streitkräfte, die meisten Waffen und die meiste Erfahrung, während Abiy Ahmed nur die Mobilisierung des Volkes gegen die „TPLF-Clique“ bleibt. Und da die EPRDF nicht mehr existiert, gibt es keine politische Struktur mehr, die Abiy Ahmed geräuschlos durch eine gemäßigtere Figur ersetzen könnte, die einen Waffenstillstand aushandeln und politische Gespräche starten könnte.
Die alten Tigray-Generäle sind keine Volkslieblinge
Dabei gäbe es Alternativen zu dem gescheiterten Friedensnobelpreisträger. Der populäre Oromo-Medienunternehmer Jawar Mohammed, einst einer der wichtigsten Unterstützer Abiys, aber seit 2020 unter Terroranklage in Haft, könnte eine wichtige Rolle spielen. Auch das Amt des Staatsoberhaupts wird bei einem Friedensprozess automatisch wichtig: Derzeit hält es die Diplomatin Sahle-Work Zewde, gekürt 2018.
Auch die TPLF weiß, dass sie nicht einfach in Addis Abeba regieren kann. Die alten Tigray-Generäle, die jahrzehntelang Äthiopien kujonierten, sind keine Volkslieblinge. Sie können höchstens als Türöffner mit der Waffe einen neuen Reformprozess für Äthiopien in Gang setzen. Ob das geht, hängt von den Scharfmachern auf beiden Seiten ab.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis