Krieg in Äthiopien: Es tobt die Entscheidungsschlacht
Die Tigray-Rebellen sind in die strategisch wichtige Stadt Dessie eingerückt. Jetzt toben schwere Kämpfe mit Äthiopiens Armee.
Die TPLF meldete am Samstag die Einnahme der Großstadt Dessie rund 400 Kilometer nördlich der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Äthiopiens Regierung dementierte, meldete aber am Sonntag heftige Kämpfe um die Kontrolle der Stadt.
Dessie mit rund 600.000 Einwohnern ist ein Verkehrsknotenpunkt von zentraler strategischer Bedeutung. Auf der 800 Kilometer langen Nord-Süd-Straße von Tigrays Hauptstadt Mekelle bis zu Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba liegt die Stadt etwa auf halbem Weg, dort, wo die Ost-West-Straßenverbindungen Richtung Sudan im Westen und Dschibuti im Osten kreuzen.
Ohne die Kontrolle Dessies verliert Äthiopiens Militär die Kontrolle über wichtige Versorgungswege im Krieg gegen Tigray.
Wie vor 30 Jahren
Schon 1991, als eine TPLF-geführte Rebellenkoalition von Tigray aus die damalige kommunistische Militärdiktatur Äthiopiens unter Diktator Mengistu Haile Mariam stürzte, besiegelte der Fall von Dessie im Mai 1991 das Ende der Mengistu-Herrschaft; rund zehn Tage später war der Diktator geflohen und die Rebellen marschierten siegreich in Addis Abeba ein.
Eine Neuauflage dieses Feldzugs 30 Jahre später könnte die alten TPLF-Generäle reizen, die zu den Veteranen des Befreiungskriegs von 1991 zählen.
Die Tigray-Generäle sehen sich militärisch in der Oberhand, da seit ihrem Sieg 1991 die TPLF das Rückgrat der äthiopischen Armee geworden war. Indem die TPLF 2020 mit Äthiopiens neuem Reformpremier Abiy Ahmed brach und dieser sie Anfang November 2020 als terroristische Organisation einstufte und ihr den Krieg erklärte, verlor Äthiopiens Regierung durch den Bruch mit den Tigray-Kämpfern auch den wichtigsten Teil der eigenen Armee – und nun zeigt die TPLF, was sie militärisch kann.
Kriegsvertriebene und Amhara-Milizen
Dessie war jetzt der wichtigste Stationierungsort für Äthiopiens Armee, um die Abwehrschlacht gegen die aus Tigray immer weiter nach Süden vorrückende TPLF zu organisieren. Zu den Einwohnern Dessies haben sich in den vergangenen Monaten mehrere zehntausend Kriegsvertriebene gesellt – zumeist flüchtige Zivilisten der Amhara-Volksgruppe, die im an Tigray grenzenden Norden der Amhara-Region vor der TPLF auf der Flucht sind.
Aus ihren Reihen haben die Behörden Milizen rekrutiert, die mit rudimentärer Ausbildung an die Front gegen die TPLF-Rebellen geschickt wurden. Die Kämpfe im Norden Amharas sollen nach unabhängigen Schätzungen bereits mehrere tausend Tote gefordert haben.
Luftangriffe auf Tigrays Hauptstadt
Um die TPLF-Logistik zu stören, hatte Äthiopien am 18. Oktober begonnen, Luftangriffe auf Tigrays Hauptstadt Mekelle zu fliegen. Die beinahe täglichen Bombardements, die mittlerweile auch andere Orte betreffen, haben immer wieder zivile Opfer gefordert und einen kompletten Stopp der UN-Versorgungsflüge nach Mekelle erzwungen.
Fast die gesamte Bevölkerung Tigrays ist von humanitärer Hilfe abhängig, da Äthiopien die rebellische Provinz abriegelt. Zuletzt bekamen aber nach UN-Angaben gerade noch rund vier Prozent der Bedürftigen in Tigray Lebensmittelhilfen. Die TPLF-Offensive nach Süden soll in Reaktion darauf die Blockade Tigrays brechen.
Seit Donnerstag haben die Rebellen Dessie mit schwerer Artillerie beschossen. Die lokalen Behörden riefen die Bevölkerung auf, in ihren Häusern zu bleiben und organisierten in der Nacht zu Samstag einen taktischen Rückzug der äthiopischen Soldaten aus der Stadt. Video- und Fotoaufnahmen bestätigten dann am Samstag den Einmarsch von TPLF-Kämpfern.
Am Sonntag rückte die äthiopische Armee jedoch wieder vor, um die Rebellen in der Stadt einzukesseln und zu vertreiben. Berichten zufolge eroberte aber die TPLF inzwischen die Nachbarstadt Kombolcha, die noch etwas näher auf der Hauptstraße zu Addis Abeba liegt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands