piwik no script img

KriegDie Hamas versucht, die Tunnel für den Schmuggel wieder aufzubauen. Ein Mädchen versucht, via YouTube Geige zu lernen. Und ein Familienvater möchte einfach nur duschen. Ein Besuch in Gaza, ein Jahr nach den letzten Bomben Gazas dunkle Nacht

Von Francesca Borri

Sinnlos ihm zu sagen, dass ich keine Muslimin bin. Ich bin nicht mal Palästinenserin. Und überhaupt, dass ich Typhus habe, und laut Koran das Ramadan-Fastenbrechen darf. Es hat keinen Zweck, ihm irgendetwas zu sagen, weil der Hamas-Polizist, der mich seit drei Stunden festhält, weil ich eine Wasserflasche in meiner Tasche habe, weder Uniform noch Abzeichen trägt. Ich weiß nur, dass er zur Hamas gehört, weil ich in Gaza bin. Es hat keinen Sinn, mit ihm zu reden und sich zu erklären: Er redet nicht. Er befiehlt.

Am Ende sackt er 100 Dollar ein und vergibt mir meine Sünden. Dies ist die Hamas heute. Die palästinensische Terror­or­ga­nisation betreibt Checkpoints, nur um dir mit einer Taschenlampe ins Gesicht zu leuchten und sich zu vergewissern, dass der Mann, der dich fährt, dein Vater oder dein Ehemann ist. Sie gehen auf Pa­trouil­le, um zu überprüfen, dass du dir keine Zigarette anmachst, kein Bier trinkst, während du im Fernsehen Fußball schaust.

Sie haben ein Auge darauf, was du schreibst.

Die Familie, die im ­zerbombten Haus weiterlebt

Ein Jahr nach dem letzten Krieg besteht Gaza aus Hunger und Verzweiflung. Rund 140.000 Häuser wurden zerstört oder beschädigt. Erst 12.000 wurden wieder aufgebaut. Es gibt immer noch 100.000 Vertriebene. Bei diesem Tempo schätzen die Vereinten Nationen, dass es 30 Jahre dauern wird, bis Gaza wieder wie zuvor ist. Dass dann also 70 Prozent der Bevölkerung wieder unter dem Existenzminimum leben. 50 Tage lang bombardierte Israel den Gazastreifen vergangenes Jahr – 141 Quadratmeilen mit etwa 5.000 Menschen, Durchschnittsalter 15 Jahre – mit einer Masse an Sprengstoff, die in ihrer Gesamtheit der Hiro­shi­ma-­Bombe gleicht.

Die Überreste von Shejaiya, das am stärksten bombardierte Gebiet, werden mit Stofflumpen, Blech und Karton zusammengehalten. Jute. Holzplanken. Oder überhaupt nicht. Palästinenser leben weiterhin in diesen durch Artilleriebeschuss zerbrochenen Häusern. Du läufst vorbei, und anstelle von Fenstern und Türen siehst du Tische, Sofas, Kühlschränke: Du sieht das Innere der Wohnungen, Familien mit einem Glas Tee. So leben sie, auf diesen schrägen Böden, auf rissigen Fundamenten, im Schutt verstecken sich Blindgänger und Asbest. Die Decken über ihren Köpfen scheinen jeden Moment zusammenzubrechen.

Wie zahllose andere sitzt Abu Nidal auf einem Teppich, ausgerollt auf Sand und Staub. Die Schuhe stehen ordentlich neben der fehlenden Tür. Er schaut aus einem Loch im Zement. Auf ein Kind, das vergebens versucht, aus einem Stück Papier einen Drachen zu basteln.

Nach einem Jahr ist er zurückgekehrt. Er hatte hier bis zum Krieg mit seiner Frau und seinen Söhnen gelebt, zehn Menschen. Sie hatten die Ruine verlassen, er zahlte insgesamt 2.000 US-Dollar Miete, um für ein Jahr ein neues Haus zu mieten. Nun ist er pleite, hat keinen Cent mehr. Er lebt von Almosen, „nicht von Hilfszahlungen“, sagt er. „Ich habe mehr Journalisten als NGOs getroffen.“

Seine Söhne sind Mechaniker. Ihre Werkstatt war im Erdgeschoss, jetzt hängt das, was davon übrig geblieben ist, in den Bäumen: ein Schutzblech, zwei Reifen, eine Batterie steckt zwischen Zweigen. Er sitzt hier den ganzen Tag, neben dieser Treppe, die ins Nirgendwo führt. „Sollen die Vereinten Nationen kommen und es ist niemand mehr da?“

Und doch sieht man, spaziert man durch die Trümmer, immer wieder Gebäude, die frisch verputzt und gestrichen sind. Der einzige noch lebendige Wirtschaftssektor hier ist der Schwarzmarkt für Zement. Palästinenser haben Anrecht auf jeweils eine Tonne für 20 Schekel, das sind umgerechnet 5 Euro. Aber das reicht nicht, um alles zu reparieren, und der Zement wird schnell weiterverkauft, im Schnitt für 50 Euro pro Tonne. Es gibt Unterschiede in der Qualität: 1,1 Millionen Tonnen stammen aus Israel, aber die wertvollsten sind die 8.000, die aus Ägypten kamen, weil sie sich gut für den Tunnelbau eignen.

Es gibt in Wirklichkeit keine Tunnel mehr. Sie wurden größtenteils von Ägypten zerstört und nicht von Israel. Das geschah noch vor dem Krieg, General al-Sisi, der neue Herrscher Ägyptens ist ein überzeugter Gegner der Islamisten. 90 Prozent der Tunnel sind dicht, und die Hamas ist in Schwierigkeiten: Schmuggel war ihre Haupteinnahmequelle. Wobei: „Schmuggel“ ist das falsche Wort. Diese Wareneinfuhr wurde von einer Aufsichtskommission geregelt, mit einem komplexen System aus Gebühren.

Der Fiat Panda, der fast 20.000 Euro kostet

Es gab Hunderte Tunnel, manchmal direkt von der Hamas betrieben, manchmal durch Vertragspartner. Durch jeden wurden pro Monat Waren im Wert von 100.000 Euro eingeschmuggelt. 70 Prozent von Gazas Budget nährte sich aus dem Import. Und nun hat die Hamas auch viele ihrer großzügigen Freunde aus dem Golf verloren. Sie konzentrieren sich mittlerweile auf andere Hot­spots. Auf Syrien und den Irak. Und die Hamas hat angespannte Beziehungen zum Iran – ihrem Hauptunterstützer – wegen ihrer vorsichtigen Haltung gegenüber Baschar al-Assad. So kratzt sie zusammen, was sie kann, erhebt wieder Steuern.

Denn Gaza ist in Wahrheit nur auf Papier abgeriegelt. Es gibt mittlerweile wieder fast alles. Sogar Nutella. Alles kommt aus Israel. Doch das bedeutet, dass nicht nur alles zu hohen Preisen – zu israelischen, nicht türkischen oder indischen Preisen – eingekauft wird. Sondern auch, dass auf alles dreifach Steuer erhoben wird: von Israel, von der palästinensischen Autonomiebehörde und von der Hamas.

Theoretisch hat in Gaza seit einem Jahr wieder Ramallah das Sagen. Die Hamas akzeptierte das, weil sie kein Geld mehr hatte, um ihre 40.000 Beamten zu bezahlen. Aber faktisch regiert sie weiterhin. Und es reicht nicht, dass Ramallah nun die Beamten bezahlt. Die Preise steigen. Die Hamas schlägt rund 10 Prozent auf die Nahrungsmittelpreise auf, 25 Prozent auf Autos, 100 Prozent auf Zigaretten.

Ein Fiat Panda kostet in Gaza am Ende fast 20.000 Euro. Obwohl die Arbeitslosigkeit bei 43 Prozent liegt und das Durchschnittsgehalt 300 Euro beträgt.

Und obwohl zwei Drittel der Palästinenser von humanitärer Hilfe leben.

Hier gibt es beides: Jeeps mit getönten Scheiben und Esel.

Die Jugend „Eine ganze Gene­ration kennt heute nichts mehr außer Gaza. Kennt nicht mehr als diese vier Straßen. Kinder ­sagen: Ich bin fünf Jahre und drei Kriege alt. “Fady Hanona, Dokumentarfilmer

Die wahre Stärke der Hamas war in Wirklichkeit schon immer die Schwäche der Fatah, der Palästinenserpartei. Seit das Westjordanland sich für den Weg über die Vereinten Nationen entschieden hat, für Verhandlungen mit Israel, ist die Hamas mit ihren Raketen zum Markenzeichen des Widerstands geworden. Der Würde. Aber sie hat nichts als Tote und Schutt erreicht. Und drei Kriege später zweifelt niemand mehr daran, dass die Hamas Israels bester Verbündeter ist. Denn sie spielt Israel in die Hände.

Die Hamas, die die Fatah fürchtet – und umgekehrt

Ebaa Rezeq ist 31 Jahre alt, sie arbeitet als Feldforscherin für eine führende Menschenrechtsorganisation. „Die Hamas regiert nicht. Sie ist weder islamisch noch irgendetwas anderes. Wenn man beim Weintrinken erwischt wird, landet man für einen Monat im Gefängnis, oder sogar für sechs. Das variiert so, weil es hier keine Scharia gibt, es gilt überhaupt kein Gesetz hier, nur der Wille der Hamas. Es gibt nur eine Bande, die Geld mit der Belagerung macht – gestern mit Tunneln, heute mit Handel.

Die Hamas behauptet, pleite zu sein und keinen Pfennig für ihre Beamten zu haben. Oder für den Wiederaufbau. Aber es ist kein Geheimnis: Der einzige Wiederaufbau, der sie interessiert, ist der der Tunnel. Und der ihres Waffenarsenals. Für Israel ist das perfekt. Ein, zwei Jahre, und es wird wieder alles bombardieren. Es wird alles wieder zerstören“, sagt Ebaa Rezeq. „Und alles wird von Neuem beginnen.“

Der letzte Krieg endete mit der gleichen Vereinbarung wie der davor.

Denn während die Aufmerksamkeit der Welt sich auf Gaza richtet, scheint Israels Aufmerksamkeit eher anderswo zu liegen. „Israel interessiert sich für das Westjordanland, nicht für den Gazastreifen“, sagt Mustafa Barghuti, einst einer der wichtigsten Unterhändler mit ­Israel. „Durch die Beseitigung von Gaza wäre es 1,8 Millionen Araber los. Und es könnte das Westjordanland annektieren, ohne seine jüdische Minderheit zu gefährden. In naher Zukunft werden wir, die Palästinenser, Siedler eines israelischen Westjordanlands sein.“ Barghuti vermittelt heute zwischen Hamas und Fatah.

Der Legislativrat, das palästinensische Parlament, wurde seit 2007 nicht einberufen. Mahmud Abbas regiert im Grunde allein in seinem Präsidentenpalast. Sein Mandat ist 2010 ausgelaufen. Und alle sind sich einig: Nur Neuwahlen können diesen Stillstand überwinden. Aber jeder hat Angst vor einem neuen Bürgerkrieg zwischen Hamas und Fatah, jeder hat Angst vor einer neuen Eskalation.

Während dies das einzige Diskussionsthema ist, während die Fatah die militante Hamas zusammentreibt, und die Hamas die militanten Fatahs zusammentreibt, verteilt der ehemalige Sicherheitschef der palästinensischen Autonomiebehörde, Mohammed Dahlan – nun ein Geschäftsmann mit einem geschätzten Vermögen von 120 Millionen Dollar – rollenweise Geldscheine.

Wohltätigkeitsorganisationen aus den Golfstaaten, die ihm nahe stehen, schenken frisch verheirateten Paaren 5.000 Dollar. 5.000 Dollar an die Familien von Kriegsopfern. Wer auch immer du bist, was auch immer du brauchst – 5.000 Dollar.

„Niemand hier unterstützt die Hamas. Aber auch niemand anderen. Es gibt keinen politischen Aktivismus mehr“, sagt Abu Jazan, der seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen will. Er war einer der führenden Köpfe der Bewegung des 15. März, die 2011 nach dem Vorbild von Tunesien und Ägypten die Straßen von Palästina füllte, um Demokratie einzufordern.

Es war ein seltener Moment der nationalen Einheit, der aber auch die Fatah und die Hamas kurzzeitig versöhnte, im Kampf dagegen. „All unsere Energie ist vom Überlebenskampf ausgetrocknet. Auch, weil jeder Kampf ohne das Westjordanland zum Scheitern verurteilt ist. Das einzige Zeichen von Solidarität, dass während des Kriegs aus dem Westjordanland kam, war eine Spende von Särgen“, sagt der Aktivist Abu Jazan.

Die Generation, die nichts anderes mehr kennt

Sie werden dies alles nicht in Zeitungen lesen – noch nicht. Und nicht nur, weil die Hamas Journalisten auf Schritt und Tritt folgt. Uns davon abhält, uns frei zu bewegen, frei zu sprechen.

50 Tage Gazakrieg

Der Beginn: Drei jüdische Religionsschüler werden Mitte Juni 2014 gekidnappt. Zwei Wochen später wird ein palästinensischer Jugendlicher tot aufgefunden. Israel und Palästina beschuldigen jeweils die Gegenseite. Ein paar Tage später fliegen die ersten Raketen.

Das Ende: 50 Tage lang wechseln sich Kämpfe und Waffenruhen ab. Dann vermittelt Ägypten eine dauerhafte Waffenruhe – der bisher schlimmste Gazakrieg endet. Ein Abkommen soll garantieren, dass die Grenzen des Gazastreifens wieder geöffnet werden.

Die Folgen: Die Vereinten Nationen werfen beiden Seiten vor, keine Rücksicht auf Zivilisten genommen zu haben. Es seien „möglicherweise Kriegsverbrechen begangen“ worden. Der Wiederaufbau ist kaum erfolgt.

„Ihr schreibt alle über die gleichen Dinge: Parcour, Kinder, die Surfschule. Diejenigen, die ihre Häuser in hellen Farben gestrichen haben, diejenigen, die einen Swimmingpool aus den Trümmern geschnitzt haben. Der beste Kaffee in Gaza. Bull­shit. Ihr verkauft diese Idee, dass Existieren gleich Widerstehen ist. Aber das ist es nicht, überhaupt nicht“, sagt Fady Hanona, 28, Dokumentarfilmer. „Eine ganze Generation kennt heute nichts mehr außer Gaza. Kennt nicht mehr als diese vier Straßen. Gewalt, Elend. Kinder sagen: Ich bin fünf Jahre und drei Kriege alt. Wie werden sie Israel und seinen ausgefeilten Mitteln der Herrschaft gegenüberstehen?“, fragt er. „Sie werden ihr ganzes Leben Falafel frittieren, nicht mehr.“

Eine der typischen Geschichten, die wir lieben sollen, ist zum Beispiel die von Tamara Abu Ramadan. Sie ist 19, und lernt mithilfe von Filmen auf YouTube Geige. Sie gilt als die kleine „Paganini“ von Gaza, die der Belagerung trotzt. Aber ihre Geschichte ist keine Geschichte des Widerstands. Sondern eine des Elends.

Sie sagt: „Du kommst hier als Reporterin nur einmal hin. Aber nur wir kennen uns, nur wir wissen, wie sehr wir uns verändert haben. Wie wir aufgegeben haben. Wir sehen überhaupt keine Zukunft. Du verbringst deine Nächte in den vier Cafés, die es noch am Strand gibt. Und vielleicht schreibst du, dass in Gaza das Leben vibriert. Aber hier gibt es kein Leben. Wir sind leere Hüllen. Deine Leser mögen keine traurigen Geschichten, aber um deinen Lesern das Abendessen nicht zu vermiesen, hältst du dicht, während wir verhungern. Und du stärkst die Hamas.“

Die Palästinenser wollen fortgehen. Sonst nichts. Alle Palästinenser. Sogar die Hamas-Typen, die dich kontrollieren, wollen einfach nur weg. Sie betteln nach einem Visum für Italien. Und abends, um zu vergessen, holen sie sich eine Tramadol-Pille – ein Schmerzmittel für Hunde, dass wie eine Art Ecstasy wirkt.

Und die offiziell verboten ist. Sie würden dich festnehmen.

Scharif ist 36 und hat vier Kinder. Er hatte einmal einen kleinen Laden für Autoersatzteile. Aber er wurde immer wieder erpresst, weil er der Fatah nahe steht. Dreimal war er im Gefängnis. Und dreimal hat er versucht, nach Europa zu kommen, mit einem gefälschten Visum. Er wurde erwischt und zurückgeschickt. Dabei ist das größte Hindernis für Palästinenser nicht das Visum. Es ist Ägypten. Der Weg zum Flughafen von Kairo. In diesem Jahr hatte die Grenze zu Rafah insgesamt 12 Tage geöffnet. Es gibt eine Warteliste: zuerst die Kranken – 30 Prozent aller unentbehrlichen Medikamente in Gaza sind ausverkauft. So können nur 3.000 Palästinenser die Grenze überqueren. Aber 15.000 wollen weg. Die Ausreise kostet. 3.000 Euro, und ein Polizist setzt deinen Namen auf die Liste.

Ich frage Scharif, was er sich von Europa erträumt. Er sagt: „Einmal duschen.“

Francesca Borri, 35, arbeitete als Menschenrechtsaktivistin in Israel und Palästina. Seit 2012 berichtet sie als freie Journalistin aus Kriegsgebieten

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen