Kreatives Desinfektionsmittel: Systemrelevante Schnapsbrenner
Früher Leber-, heute Virenschreck: Statt Gin und Korn produzieren Spirituosenhersteller jetzt Rohalkohol für Desinfektionsmittel.
Für die Schenkung hätten die Behörden den Kräuterlikörhersteller von der Steuer befreit. Ethanol, so der chemische Name für reinen Alkohol, ist der Hauptbestandteil für Desinfektionsmitteln.
Mit der Coronakrise ist der Bedarf an Desinfektionsmitteln in Deutschland und weltweit extrem gestiegen, auch weil viele Menschen sich vorbeugend damit eindecken. Die Hersteller können die Nachfrage nicht decken. In normalen Zeiten ist die Produktion von Desinfektionsmitteln in Apotheken nicht gestattet. Denn Alkohol verarbeiten dürfen nur wenige Firmen, denen der Zoll genau auf die Finger schaut.
Auf Alkohol erhebt der Staat hohe Steuern. Bei einer Flasche Korn mit 0,7 Litern und 40 Prozent Alkohol gehen 3,65 Euro an den Fiskus. Weitgehend ausgenommen von der Steuer sind Firmen, die Alkohol für medizinische Zwecke, für die chemische Industrie oder für Labore herstellen. Damit keine Laborantin auf die Idee kommt, den hochprozentigen Rohstoff zu trinken oder mit ihm einen Schattenhandel zu treiben, wird Industrieethanol durch Zusätze ungenießbar gemacht.
Nicht versteuerter Alkohol ist Mangelware
Im Zuge der Coronakrise haben die Bundesbehörden befristet zoll- und alkoholsteuerliche Allgemeinverfügungen erlassen, die es mehr Produzenten erlauben, Industriealkohol zu produzieren und direkt zu vermarkten. Dieser Hauptbestandteil von Desinfektionslösungen ist zwar knapp, kann aber prinzipiell im Inland hergestellt werden. Die Behörden wollen ermöglichen, dass möglichst viele Desinfektionsmittel und die dazu nötigen Ausgangsstoffe produziert werden.
Handwerklich waren Apotheken schon immer in der Lage, Desinfektionsmittel herzustellen, aber eine EU-Verordnung hat ihnen das bislang untersagt. Auch die wurde befristet außer Kraft gesetzt. Mit Ausnahme von Ethanol seien die anderen Ausgangsstoffe „derzeit noch über die normalen Bezugswege für Chemikalien“ zu beziehen, sagt Kai-Peter Siemsen, Präsident der Apothekerkammer Hamburg, der taz. Doch nicht versteuerter Alkohol ist Mangelware. Den liefert Siemsen zufolge für Hamburger Apotheken jetzt die Hamburg Distilling Company, Produzent des „Knut Hansen Gin“.
Der Apothekerpräsident sagt: „Wir Hamburger rücken in dieser Krise enger zusammen. Die Coronapandemie erfordert ungewöhnliche und auch kreative Lösungsansätze.“ Doch die Hilfe durch den Ginproduzenten allein reicht nicht. Auch das Pharmazeutische Institut der Hamburger Universität, mehrere Brauereien und Bioethanolproduzenten liefern Alkohol an Apotheken in Hamburg.
Lokale Medien berichten, dass die Schnapsfirma Nordbrand im thüringischen Nordhausen, die Sektkellerei Rotkäppchen in Freyburg in Sachsen-Anhalt und die Schnapsbrennerei Schraml aus Erbendorf in Bayern neben ihrem eigentlichen Sortiment ebenfalls Rohalkohol für lokale Apotheken produzieren.
Klosterfrau Melissengeist
Damit es nicht bei der Manufakturproduktion der Desinfektionslösungen in den Apotheken bleibt, hat der Hersteller von Klosterfrau Melissengeist seit April eine Produktionsanlage vorübergehend auf Händedesinfektionsmittel umgestellt, berichten lokale Medien. In einem Rundschreiben an Apotheken hatte das Unternehmen darauf hingewiesen, dass auch Klosterfrau Melissengeist antiviral wirke. Das trifft allerdings auf viele hochprozentige alkoholische Getränke zu.
Auch Zuckerproduzenten stellen um. Apotheker aus ganz Mecklenburg-Vorpommern stehen vor der Zuckerfabrik in Anklam Schlange, wenn einmal pro Woche Ethanol ausgegeben wird. Der entsteht bei der Vergärung von Zucker. Käufer müssen ihre Betriebserlaubnis als Apotheker vorzeigen und zur Vermeidung von Ansteckungen einen eigenen Kugelschreiber zum Unterschreiben des Lieferscheins mitbringen.
Das Unternehmen Nordzucker produziert an seinem Standort in Sachsen-Anhalt ebenfalls Alkohol für Desinfektionsmittel – statt wie bisher Biotreibstoff für Fahrzeuge. „Aufgrund des erhöhten Bedarfs stellen wir sämtliches noch verfügbare Bioethanol ausschließlich für weiterverarbeitende Betriebe zur Desinfektionsmittelherstellung bereit“, sagt Sprecher Sven Weber der taz.
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