Kreativer Protest: Das Gewirr
Vor einem Jahr haben Hamburger Künstler das Gängeviertel besetzt - eine Erfolgsgeschichte mit einem blinden Fleck: dem ausstehenden Kampf um angemessene Bezahlung. Eine Betrachtung zum Jubiläum.
Eigentlich ist das Ding schon durch, und es läge nahe, nun zum Feiern überzugehen. In bester Hamburger Innenstadtlage besetzt eine Schar Künstler eine Handvoll maroder altstädtischer Bauten, Reste des Gängeviertels, die ein Großinvestor zu sanieren und abzureißen sich anschickt. Schon bald erfährt ihre Aktion Zuspruch von allen Seiten, die Stadt kauft das vormals städtische Areal nach einigem Zögern zurück, verzichtet darauf, einen neuen Investor oder Kulturmäzen ins Boot zu holen, und verkündet, in den Häusern das Nutzungskonzept der Künstler realisieren zu wollen. Gerade hat die Stadtentwicklungssenatorin einen zweistelligen Millionenbetrag in Aussicht gestellt.
Gewiss, hier und da wird sich noch gerieben: die Künstler dringen auf Selbstverwaltung, die Stadt will ihnen gern die Stadtentwicklungsgesellschaft (Steg) vorsetzen. Alles in allem aber hat die Künstlerinitiative "Komm in die Gänge" schon jetzt mehr erreicht, als wohl je einer zu träumen wagte und damit an die wunderbare Lehre erinnert, dass wir als Realisten gelegentlich das Unmögliche fordern müssen.
So lässt sich die Geschichte schlicht und ergreifend erzählen. Sie ließe sich aber auch anders erzählen, denn bei genauem Hinsehen erscheint das Gängeviertel heute als das, was es städtebaulich schon immer war: ein Gewirr. Durcheinander geriet die Geschichte schon ganz am Anfang, als vor einem Jahr rund 200 Künstler die maroden Häuser am Valentinskamp und der Caffamacherreihe, ja was eigentlich: besetzten? Oder lediglich mit einem "kulturellen Hoffest" bespielten, wie die Initiative "Komm in die Gänge" die bei der Polizei angemeldete Aktion nannte?
Jubiläum ist offiziell am Sonntag, gefeiert wird das ganze Wochenende. Das Programm in Auszügen:
Ausstellung "Ein Jahr Gängeviertel": ganztägig (11-20 Uhr).
Lesung Christoph Twickel "Gentrifidingsbums oder eine Stadt für alle": Freitag 20 Uhr.
"The Very Heart Of Istanbul". Film über die Aufwertung des Stadtteils Tarlabasi: Freitag 22 Uhr.
Malworkshop krikelkrakel: Samstag 15 Uhr.
Konzert bureaumaschine: Samstag 22 Uhr.
DJs, Grillen, Getränke: Sonntag ab 14 Uhr.
Historische Krimi-Lesung Boris Meyn: Sonntag 16 Uhr.
"Swarm": Projekt der Aktivistengruppe LABOFII aus London: Sonntag 21 Uhr.
Mehr Informationen unter: www.das-gaengeviertel.info/geburtstag.html
Vielleicht lässt sich sagen, dass die Aktion am 22. August beides war, ein harmloses Hoffest und eine wilde Besetzung, und dass diese anfängliche Struktur des Sowohl-als-auch die weitere Geschichte des Gängeviertels bestimmt hat. Noch in der entscheidenden Forderung der Initiative verbirgt sich diese Doppelstruktur: Die Stadt solle das Areal "aus dem monetären Verwertungsdruck herausnehmen", wurde die Initiative nicht müde zu betonen. Und um diese Forderung besser zu begründen, fügte man gelegentlich mit dem Ökonom Richard Florida hinzu, dass sich die Sache - Stichwort Szene und Kultur als weiche Standortfaktoren im Wettbewerb der Metropolen - für die Stadt durchaus rechne.
Das Gängeviertel: ein der schönen Kunst und der schnöden Ökonomie verpflichtetes Projekt. Ein Schlaglicht auf diesen Zusammenhang fiel, als sich die Künstler kürzlich mit dem neu eingezogenen Nachbarn vom nebenanliegenden BrahmsQuartier, der Deutschland-Zentrale des Ölriesen Esso arrangierten. Nach dem Treffen sagte eine Sprecherin der Initiative dem Hamburger Abendblatt: "Man hat das Gefühl, das familiäre Betriebsklima von Esso ist dem des Gängeviertels sehr nah".
Sehr nah ist die Gängeviertel-Initiative rhetorisch auch dem Business-Sprech, wie die Jungle World kürzlich bemerkte, etwa wenn das eigene Konzept mit Formeln wie "Synergien nutzen" der Stadt schmackhaft gemacht werden soll. Aus klassischer Sicht müsste man diese Ökonomisierung bedauern und darauf beharren, dass Kultur dort anfängt, wo der Nutzen endet. Damit aber geriete gerade das Neue aus dem Blick, das sich im Gängeviertel exemplarisch zeigt. Mit dem französisch-italienischen Theoretiker Maurizio Lazaratto könnte man ins Auge fassen, dass in unserer Epoche die Kultur mit ihren Wahrheits- und Schönheitswerten zum Motor der Produktion von Reichtümern geworden ist, und zwar irreversibel. Wollten wir das emanzipatorische Potential der Kultur retten, reiche es daher nicht aus, sich um die Verteidigung ihrer Autonomie zu bemühen. "Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit", schreibt Lazaratto, "verlangen künstlerische, intellektuelle und ökonomische Arbeit auf der einen, Warenkonsum, Aneignung von Wissen und Schönheitswerte auf der anderen Seite danach, nach der gleichen Ethik reguliert zu werden". Wenns bei Esso zugeht wie im Gängeviertel, sind wir dieser Utopie einen Schritt näher.
Allerdings zeigt sich am Gängeviertel auch, was uns von Lazarattos Utopie noch alles trennt. Schwer vorstellbar, dass sich Esso wie die Gängeviertel-Initiative "ehrenamtliche Arbeit als Kostenersparnis" auf die Fahnen schriebe, oder etwa beteuern würde: "Wir bieten der Stadt ein Geschenk". Ökonomische und künstlerische Arbeit klaffen in diesem Fall auseinander wie eh und je: Wer bei Esso arbeitet, wird entlohnt (weil er andere ausbeutet), wer im Gängeviertel arbeitet, beutet sich selbst aus.
Umstandslos lässt sich die Gängeviertel-Initiative dem Prekariat zuschlagen: Künstler, die sich von Projekt zu Projekt hangeln und ihre Kreativität mit wechselnden Nebenjobs finanzieren. Der Utopie ließe sich damit eine Schreckensvision an die Seite stellen. Die Künstler haben sich mit dem Gängeviertel einen Ort erstritten, der ihnen zur Falle wird. Als jung-dynamische Unternehmer ihrer selbst ("Komm in die Gänge") sehen wir sie ins Hamsterrad unterbezahlter Kreativitätsentfaltung steigen. Mit Grauen blickt man dann voraus auf alternde, erfolglose, meist kinderlose Künstler, die sich grantig durchbeißen und ihr ach so freies Leben in verzweifelter Flucht nach vorn aggressiv zur Schau stellen.
Anhand einer solchen Schreckensvision zeigt sich auch der blinde Fleck der gesamten Recht-auf-Stadt-Bewegung, die das Gängeviertel als ihren größten Erfolg ansieht. "Recht auf Stadt" geht davon aus, dass das vornehmliche Anliegen der Linken ein territoriales zu sein hat: der Kampf gegen Gentrifizierung und Rendite. Dabei tendiert die ehrenvolle Bewegung dazu, im Gefolge des auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften modischen "spatial turn", den Raumbegriff zu fetischisieren. Als reiche es aus, einen Ort zu erobern! Als gingen aus diesem Ort wie von selbst neue, bessere Lebensentwürfe hervor! Freiräume sind aber nichts, wenn es keine Freizeit gibt. Bedingung von Freizeit wiederum ist angemessene Bezahlung geleisteter Arbeit, einschließlich der kreativen.
"Komm in die Gänge"? Für diesen Topos lässt sich in unserer heutigen, voll entfalteten Arbeitsgesellschaft sinnvoll nur streiten, wenn ein anderes Anliegen ergänzend sich dazu gesellt: "Vertändel den Tag"! Entgegen den Verlockungen der Recht-auf-Stadt-Theoretiker sollte deshalb die Linke die Kategorie der Zeit als Maß der Arbeit und Grund der Ware weder im Denken noch in der praktischen Aktion vernachlässigen.
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