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Krawalle in den NiederlandenFortsetzung befürchtet

Schwere Ausschreitungen bei Protesten gegen die Coronamaßnahmen haben das Land erschüttert. Auch für die nächsten Wochen sind Demos angekündigt

Die Demo in Amsterdam am Samstag wurde mit Wasserwerfern beendet Foto: Eva Plevier/reuters

Amsterdam taz | Die Niederlande ziehen die Bilanz eines Wochenendes voll schwerer Ausschreitungen in mehreren Städten: 250 Festnahmen, davon die meisten bei den Demonstrationen in Amsterdam und Eindhoven am Sonntagnachmittag, die jeweils mit Wasserwerfereinsätzen beendet wurden. Außerdem ein Sachschaden von Hunderttausenden Euro und bevorstehende wochenlange Reparaturen am Bahnhof von Eindhoven sowie eine ausgebrannte Coronateststraße im für seine orthodoxen Calvinisten bekannten Fischerstädtchen Urk am Ijsselmer.

Die Brandstiftung, kurz nachdem die erste, zur Bekämpfung des Coronavirus eingesetzte Sperrstunde am Samstag in Kraft trat, wurde zum Fanal für den Rest des Wochenendes: Am Sonntag folgten Ausschreitungen unter anderem in Enschede, Den Haag, Tilburg, Venlo, Arnheim und Apeldoorn. Von einer „beispiellosen Gewaltexplosion“ spricht die Amsterdamer Tageszeitung Het Parool am Montag. Mark Rutte, als Premierminister nach dem Rücktritt seines Kabinetts noch kommissarisch im Amt, sagte am Montag, die „kriminelle Gewalt“ habe nichts mit einem Kampf um Freiheit zu tun.

Als solchen bezeichnen sehr diverse Gruppierungen, die sich gegen die Coronapolitik der Regierung richten, seit Monaten ihre Kundgebungen und Protestaktionen. Ähnlich wie bei der Querdenker-Bewegung in Deutschland vermischen sich dabei Personen mit (links-)alternativem oder esoterischem Hintergrund mit Wutbürgern und organisierten Rechtsextremen. Zusammengehalten wird diese Allianz durch eine Klammer aus Verschwörungsszenarien und angestautem Frust über die seit Monaten anhaltenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die zahlreiche Unternehmer um ihre Existenz fürchten lassen.

Entsprechend unzusammenhängend wirkten die Orte, an denen sich diese Mischung am Wochenende entlud: vom schwer beschädigten Bahnhof und geplünderten Geschäften in Eindhoven bis zum „Medisch Spectrum Twente“-Krankenhaus im grenznahen Enschede, das am Sonntagabend mit Steinen beworfen wurde. Offenbar mischten sich an mehreren Orten Hooligans unter die Demonstrierenden. Die Website nu.nl zitiert Hubert Bruls, den Bürgermeister von Nijmegen und zugleich Vorsitzender des landesweiten Sicherheitsrats: „Die Ausschreitungen in Eindhoven und Amsterdam schienen andere Leute an anderen Orten anzustecken.“

Komplexe politische Krise

Gleichzeitig stecken die Niederlande anderthalb Monate vor den Parlamentswahlen in einer komplexen politischen Krise – genährt von einer Affäre um Kinderbeihilfen, dem daraus folgenden Rücktritt der Mitte-rechts-Koalition und dem Unmut über den spätesten Impf-Beginn in der EU. Diese Bestandteile verbinden sich in einer politischen Kultur, in der Verschwörungstheorien zunehmend Anklang finden und Werte wie Pressefreiheit unter Druck geraten. In Tilburg und Urk wurden am Wochenende Journalisten angegriffen.

Der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft Nederlandse Politiebond, Koen Simmers, warnt unterdessen davor, dass die Ausschreitungen vom Wochenende sich fortsetzen. „Ich hoffe, dass dies einmalig war, aber ich befürchte, dass es ein Vorbote der kommenden Tage und Wochen war“, sagte er in der TV-Nachrichtensendung „Nieuwsuur“.

Die kürzlich verhängte Sperrstunde von 21 Uhr bis 4.30 Uhr, die erste ihrer Art nach dem Zweiten Weltkrieg, gilt wie die restlichen Lockdownmaßnahmen bis zum 9. Februar. Auf der Facebookseite Nederland in Verzet (Die Niederlande im Widerstand) sind bis zu den Wahlen jedes Wochenende weitere Kundgebungen angekündigt.

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12 Kommentare

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  • Ausgerechnet aus dem Land, dessen Regierung Spanier und Italiener gerne zu mehr Disziplin ermahnt. Komisch, solche Szenen gibt's es sonst nicht mal in den USA.

  • Spätestens bei solchen Ausgangssperren ist bei mir auch Lockdown.

    • @Der Sizilianer:

      Spätestens bei solcher Gewalt ist Ausgangssperre. Die Randalierer haben da schön eine zweite Rechtfertigung geliefert.

      • @Suryo:

        Die Krawalle machen nur die eigentliche Ausgangssperre und ihre Begründung weder unbedingt sinnvoll noch rückwirkend rechtskonform.

        Eine Ausgangssperre ist ein wirklich krasser Eingriff in die Grundrechte, der sich auch entsprechend legitimieren muss.

        • @Der Sizilianer:

          Das hängt von der niederländischen Verfassung und Rechtsprechung ab.

  • Nach aktuellen Studien hatten Ausgangsbeschränkungen auch jene tagsüber im Vergleich von 41 Ländern und ihrer Maßnahmen einen geringen Effekt auf die Eindämmung der Pandemie. Den größten Effekt hatte die Beschränkung von Gruppentreffen auf maximal 10 Personen und (leider) Schulschließungen. Die Studie wurde Mitte Dezember veröffentlicht - da fragt man sich schon warum Regierungen ausgerechnet nächtliche Ausgangssperren verhängen - im Winter - bei ohnehin schon komplett geschlossener Freizeitlokalitäten.



    Siehe diese Studien (veröffentlicht im Dezember):



    www.scinexx.de/new...n-am-effektivsten/



    www.rbb24.de/panor...mmung-studien.html

    Ebenfalls sehr effektiv könnte eine (Teil-) Schließung nicht Systemrelevanter Betriebe sein. Eine Studie vom Januar zeigt dass im Frühjahr wegen Auftragseinbrüchen in der ersten Pandemiewelle knapp 30 Prozent der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe in Kurzarbeit waren. Bei nun vollen Auftragsbüchern der Industrie nun aber nur noch zwischen 8-9 Prozent mit Kurzarbeitergeld zu Hause bleiben. Beim Homeoffice waren im November 14 Prozent Büroarbeiter:innen im Homeoffice im April 27 Prozent.

    • @Nina Janovich:

      Dies hier haben Sie seltsamerweise nicht erwähnt: "Als mit Abstand effektivste Maßnahme erwies sich die Schließung von Schulen. Unabhängig von anderen Maßnahmen senkte sie die Reproduktionszahl im Schnitt um 50 Prozent." - Und nu?

    • @Nina Janovich:

      Aber wissen Sie, worauf Ausgangssperren einen Effekt haben? Auf nächtliche Krawalle. Wer um 21:01 auf der Straße verhaftet wird, kann schließlich kein Krankenhaus mehr anzünden.

    • @Nina Janovich:

      "da fragt man sich schon warum Regierungen ausgerechnet nächtliche Ausgangssperren verhängen - im Winter - bei ohnehin schon komplett geschlossener Freizeitlokalitäten."



      Fragt man sich in der Tat. Die Antwort dürfte auf Panik und Unwissen hinauslaufen.



      Ich frag mich allerdings auch, warum das dann überhaupt so ein Problem ist, dass man zu Gewalt in diesem Ausmaß greift?

  • Ein sehr sympathisches Völkchen, diese Niederländer.

    • @JLloyd:

      Stimmt, es gibt viele nette Leute dort.

      Aber wie wir sehen, auch jede Menge Idioten und A*löcher. Genau wie bei uns.