Krawalle in Frankreichs Banlieues: Die Stadt der Wütenden

Nachts sind ihre Brüder über den Balkon abgehauen, um mitzumischen. Die Mädchen vor der Schule des Pariser Vororts Villiers-le-Bel haben Verständnis für die Randale: Schließlich sind ihre Freunde tot

"Man muss sich in die Köpfe der Jungs hineinversetzen". Bild: dpa

VILLIERS-LE-BEL taz "Rache", sagt der kleine Blonde. "Wir sind solidarisch", meint der schwarze Junge rechts neben ihm, "die Leute hier gehören zur Familie." "Wir wollen, dass über uns geredet wird", tönt der Braunhäutige links auf der Bank.

Kaum war Nicolas Sarkozy von seiner Chinareise wieder in Paris eingetroffen, äußerte er sich zu den Vorfällen der letzten Tage. Gewalttäter, so der Präsident, dürften nicht davonkommen, "wir werden die Schützen finden". Seit Sonntag waren durch Schüsse aus Schrotgewehren mehrere Polizisten verletzt worden.

Am Morgen besuchte Sarkozy im Pariser Vorort Eaubonne einen Polizeikommissar im Krankenhaus. Der Mann war zu Beginn der Krawalle schwer verletzt worden. Wer auf Polizisten schieße, so der Präsident, werde sich vor einem Schwurgericht wiederfinden. "Die Taten haben einen Namen, das ist versuchter Mord."

Am Vormittag empfing Sarkozy die Eltern der beiden getöteten Jugendlichen aus Villiers-le-Bel im Élysée-Palast. Der Tod der 15- und 16-Jährigen sei "beklagenswert", sagte er und kündigte ein richterliches Ermittlungsverfahren an. Das teilte anschließend der Anwalt der Familien, Jean-Pierre Mignard, mit.

Nach einer Kabinettssitzung hat die Regierung angekündigt, im Januar ihren versprochenen Plan für die Problemvorstädte vorzulegen. Es gehe nicht darum, "noch einmal Milliarden" zu verteilen, sagte Regierungssprecher Laurent Wauquiez. Vielmehr ziele die Regierung auf das eigentliche Problem an den Stadträndern, das "ein menschliches Problem" sei. Die Jugendlichen dort brauchten eine bessere Ausbildung und Arbeitsplätze. Außerdem müssten die Gebiete durch den Nahverkehr besser zugänglich gemacht werden. Sarkozy hatte im Wahlkampf einen "Marshallplan" für die Vorstädte angekündigt. AFP, DPA

Es sind Erklärungsversuche für die Straßenschlachten, die in den Nächten von Sonntag bis Dienstag die nördlich von Paris gelegene Vorstadt Villiers-le-Bel in Rauchwolken gehüllt haben. An diesem Mittwoch, dem Morgen nach der ersten ruhigen Nacht, in der über tausend Polizisten durch die Straßen patrouilliert sind und sie von oben per Helikopter überwacht haben, sitzen die drei Jungen auf der hinteren Bank von Bus Nummer 270. "Nennen Sie mich Biggie" sagt der Schwarze. "Ich bin Psycho", stellt sich der Braunhäutige grinsend vor. Der kleine Blonde sagt: "Ich bin bei den Bullen bekannt." Die drei kommen aus Sarcelles, der Nachbargemeinde von Villiers-le-Bel. 19 sind sie, haben alle einen Job und finden das Leben in ihrer Vorstadt einfach "scheiße".

Der Bus 270 verbindet die S-Bahn-Station Gonesses mit der von Villiers-le-Bel. Vor dem Fenster zieht eine typische französische Vorstadt vorbei: Sozialsiedlungen mit großen Wohnblöcken, die meisten mit frisch renovierten Fassaden, wechseln sich mit adretten Reihenhäusern ab. Dazwischen liegen Gewerbegebiete. An einer Kreuzung hievt ein Kran verkohlte Autowracks auf einen Lastwagen. Bis Sonntagnacht stand auf dem Eckgrundstück eine Hyundai-Niederlassung, 30 Leute arbeiteten hier. Wenige Stunden nach dem Zusammenstoß zwischen einer Polizeistreife und einem Minimotorrad, auf dem zwei Jugendliche saßen, ging die Firma in Flammen auf. Übrig ist nur noch ein Gerippe.

Ein paar Meter weiter, auf einer Verkehrsinsel, stehen noch die Plakate für das "Requiem" von Gabriel Fauré, das am Sonntagnachmittag um 16 Uhr von den örtlichen Musikschulen im Kulturzentrum aufgeführt wurde. Eine Stunde nach Konzertbeginn waren Lakhami, 16, und Mouhsin,15, tot. Die beiden in dem Ort geborenen Jungen - der eine aus einer marokkanischen, der andere aus einer senegalesischen Einwandererfamilie - kannten sich von Kindheit an. Wenige Stunden nach ihrem Tod bezogen Kamerateams Stellung auf der Verkehrsinsel. Der Platz erwies sich als günstig: In der zweiten Krawallnacht gingen in der nur wenige Meter entfernten Sozialsiedlung Ceriseraie sowohl die Gemeindebibliothek als auch eine Vorschule in Flammen auf.

An diesem Mittwochmorgen stehen Jugendliche in kleinen Gruppen zwischen den Übertragungswagen. Es wirkt, als würden sie darauf warten, interviewt zu werden.

Was in der Banlieue anders werden müsste, damit sie wieder zur Ruhe kommen, das haben sich die drei Jungen im Bus 270 noch nicht gefragt. Zwei Nächte lang waren sie in Villiers-le-Bel unterwegs. Na ja, sie fahren gern Motorrad, "wenn sie uns ein Motocrossgelände anlegen würden, wäre das schon gut," fällt schließlich dem Schwarzen ein.

Bus 270 bremst an der rue Louise Michel. Neben einer Hecke stapeln sich Blumensträuße. Rosa und gelbe Rosen. An eine Laterne sind Abschiedsbriefe geklebt. In kindlicher Schrift stehen da Sätze wie: "Lakhami und Mouhsin - wir werden euch nie vergessen", ein Foto zeigt einen strahlenden Jungen, der auf einem Kamel reitet. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite weisen Blasen im Asphalt auf einen Brand hin. Das Auto, das hier zerstört wurde, ist schon weggeräumt.

Die Gegend hier hat schon im Herbst 2005 Schlagzeilen gemacht - wegen der besonders vielen verbrannten Autos. Auch diesmal war wieder mächtig was los. Stundenlang standen sich Polizisten und Jugendliche gegenüber, von den Balkons prasselten Wurfgeschosse und Beschimpfungen auf die Beamten herab.

"Ich halte das hier kaum noch aus", klagt eine kräftig gebaute Mutter. Sie steht in einem der Innenhöfe der Siedlung und hebt ihre hennaverfärbten Hände wie zum Gebet: "Die Jungen gehen nicht mehr zur Schule, sie haben keine Arbeit und hängen den ganzen Tag zu Hause herum." Andere Frauen fallen ihr auf Arabisch ins Wort. Von einem Balkon im zweiten Stock mischt sich eine andere Frau Frau ein, sie schreit, "eine Schande" sei das, dass der Präsident an diesem Morgen zuerst einen verletzten Polizisten besucht und erst danach die Angehörigen "unserer beiden kleinen Jungen" empfangen hat. "Auch die Polizei macht Fehler", sagt eine Frau unten im Hof. Andere fallen ihr in gebrochenem Französisch ins Wort, sie hätten "gehört", die Polizisten hätten am Unfallort keine Erste Hilfe geleistet. Überhaupt würden ihre Jungen "wie Hunde behandelt".

Vor dem Tor zur Saint-Exupéry-Schule stehen Mädchen, die hier in der Gegend wohnen. An diesem eiskalten Morgen tragen viele keine Strümpfe unter den dreiviertellangen Hosen und hautenge T-Shirts. "Ich will doch nicht wie eine Zigeunerin aussehen", sagt eine 15-Jährige schlotternd. Die Tochter westafrikanischer Einwanderer hat Verständnis für die nächtlichen Schlachten der Jungen, ebenso wie sie hasst sie die Polizei. "Natürlich ist es ein Fehler, eine Bibliothek anzuzünden", sagt sie, "aber was sollen wir sonst tun, wenn sie uns fertigmachen?" Sie hat die beiden Toten, Lakhami und Mouhsin gekannt. "Süß" nennt sie sie, "lustig" und "glücklich".

Die umstehenden Mädchen, zwei Dutzend sind sie nun, erzählen Geschichten von ihren Brüdern. In den Krawallnächten seien die über den Balkon auf die Straße abgehauen oder gar nicht erst nach Hause gekommen. Die Schülerinnen haben am Montag und Dienstag an den Schweigemärschen für die Toten teilgenommen. Sie werden es am Freitag wieder tun.

Der Weg zum S-Bahnhof Villiers-le-Bel führt vorbei an Einfamilienhäusern, hinter heruntergelassenen Rollläden haben sich die Anwohner seit der ersten Krawallnacht versteckt. Eine Frau, die seit 15 Jahren hier lebt, erzählt, sie habe, gleich als die ersten Mülleimer brannten, den Wagen hinters Haus gefahren. Bisher hat sie sich hier immer sicher gefühlt, das ist nun vorbei.

Auch in der Hauptgeschäftsstraße sind fast alle Schaufensterscheiben durch Holzbretter ersetzt. Drauf kleben Sticker von Versicherungen, die sich um die Reparatur kümmern. In den beiden Krawallnächten sind Scheiben unterschiedlichster Art zertrümmert worden. Bei dem medizinischen Labor, beim Konditor, bei der Immobilienagentur, beim Weingeschäft und beim Fleischer. Auch mehrere Geldautomaten wurden zertrümmert. Die Fensterscheibe der Bar Le Havane ist als einige von wenigen unversehrt. "Weil unser eisernes Rollo heruntergelassen war",sagt der Mann hinter dem Tresen achselzuckend. Er hat eine Erklärung für die Straßenschlachten: die hohe Arbeitslosenrate in Villiers-le-Bel. 19 Prozent beträgt sie hier, bei den unter 25-Jährigen reicht sie bis an 40 Prozent.

"Man muss sich in die Köpfe der Jungs hineinversetzen", sagt ein 22-jähriger Gemeindearbeiter, der seit Montag Brandspuren und Scherben beseitigt: "Sie haben ihre Kinderfreunde verloren. Sie sind wütend." Er ist weiß, trägt den französischen Namen Mathieu und hat eine Arbeit, für die er sehr früh aufstehen muss. Deshalb ist er nachts nicht unterwegs. Aber auch er macht immer wieder die Erfahrung von Polizeikontrollen: "Weil ich jung bin und hier lebe." Mathieu meint: "Es hätte auch mich treffen können."

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