Krawall beim Istanbul-Derby: Auswärtssieg für Erdogan
Nach dem Abbruch des Spiels zwischen Besiktas und Galatasaray wird über die Motive gestritten. Fest steht jedenfalls, wem der Spielabbruch nützt.
ISTANBUL taz | Fangen wir mit der Nebensache an: dem Fußball. Besiktas geht als Favorit in das erste Istanbul-Derby der Saison. Mit dem neuen Trainer, dem früheren kroatischen Nationaltrainer Slaven Bilic, ist das Team mit vier glänzenden Siegen in die Saison gestartet. Anders Galatasaray: Nur sechs Punkte aus vier Spielen, dazu am Dienstag die blamable 1:6-Niederlage in der Champions League gegen Real Madrid.
Beim Derby ist Besiktas zwar Heimmannschaft, aber weil das nahe dem Taksimplatz gelegene Inönü-Stadion komplett neu gebaut wird, spielt Besiktas zu Saisonbeginn im „Atatürk Olympia Stadium“. Das ist zwar weit abgelegen – auf dem Weg dahin kann man weidende Kühe sehen –, aber bietet immerhin eines: Platz. 76.126 Zuschauer sind es an diesem Sonntagabend offiziell, türkischer Ligarekord. Ausnahmslos Besiktas-Fans wohlgemerkt. Denn Gästefans sind bei Derbys in Istanbul grundsätzlich nicht zugelassen.
Das Spiel ist von Beginn umkämpft, wobei Besiktas die besseren Chancen hat und in der 18. Minute nach einer schönen Kombination durch den ehemaligen Bremer Hugo Almeida in Führung geht. In der zweiten Hälfte dreht Galatasaray auf. Didier Drogba, der gegen Madrid verletzt ausgeschieden und für das Derby fitgespritzt worden war, organisiert das Spiel, hilft in der Defensive, holt und verteilt Bälle. Und vor allem: er erzielt die Tore, wobei beide Male schwere individuelle Abwehrfehler bei Besiktas vorausgehen.
Ganz sauber ist das zweite Tor nicht, vor seinem Zuspiel auf Drogba hatte Burak Yilmaz den Ball mit dem Arm gestoppt. Schiedsrichter Firat Aydinus ahndet das nicht und zieht damit und nach weiteren streitbaren Entscheidungen den Zorn der Besiktas-Fans auf sich. Gegen Ende kämpft sich Besiktas zurück. Doch die restlichen drei Minuten der Nachspielzeit werden nicht mehr gespielt. Womit wir beim anderen Thema wären: den Fans. Und der Politik.
„Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“
Bei den Gezi-Protesten im Frühjahr hatten Angehörige von Çarsi, der Ultravereinigung von Besiktas, eine wichtige Rolle gespielt. Die Proteste sind gegenwärtig zwar abgeflaut, die politische Lage im Land aber ist weiterhin extrem, die Gesellschaft polarisiert. Ein Ausdruck dessen: das Verbot von politischen Parolen, das der türkische Verband für Fußballspiele verfügt hat. Doch obwohl den Klubs bei Verstößen schwere Sanktionen drohen, haben sich Fans zahlreicher Klubs nicht abschrecken lassen.
Seit Saisonbeginn skandierten sie immer wieder in der 34. Minute – 34 ist das Autokennzeichen von Istanbul, dem Zentrum der Proteste – „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“. Den originellsten Beitrag lieferten dabei Fans von Gençlerbirligi aus Ankara, als sie bei ihrem ersten Heimspiel skandierten: „Politische Parole, politische Parole!“
Auch am Samstag riefen Tausende Fans von Fenerbahçe Parolen der Gezi-Bewegung, die bis zur Pause andauerten. Der übertragende Fernsehsender Lig-TV drehte den Ton aus dem Stadion ab, Mitglieder des AKP-nahen Fanclubs Genç Fenerbahçeliler griffen Mitglieder des linken Fanclubs Sol Açik an. Noch heikler war aus Sicht der Staatsmacht die Lage beim Derby. Dort sollten sich vier Staatsanwälte unter die Fans mischen, um gleich an Ort und Stelle mit den Ermittlungen anzufangen – ein einmaliger Vorfall im türkischen Fußball.
Bis zur 34. Minute wollen die Besiktas-Fans aber nicht warten. Vor Anpfiff rufen Zehntausende Gezi-Parolen und singen oppositionelles Liedgut. Eine kleine Minderheit pfeift dagegen an. Einmal dreht die Stadionregie die Anlage so weit auf, dass nur noch ein brutal lautes Kreischen zu hören ist. „Da werden Ermittlungsbehörden bei der Arbeit behindert“, witzelt jemand.
Laut ist es auch nach dem Anpfiff. Aber die Aufmerksamkeit der Fans gilt dem Spiel. Auch die Parolen in der 34. Minute währen nur kurz; zu spannend ist der Spielverlauf. Erst in der zweiten Halbzeit lässt der ohrenbetäubende Lärm auf der Tribüne nach. Dafür kommt es kurz vor Schluss auf den unteren Rängen der Gegengeraden zu einer Schlägerei zwischen Fans. Einige Leute, darunter welche mit Kindern, flüchten auf die Laufbahn.
Provozierende Gesten
Die Gegentribüne ist in Aufruhr. Als kurz darauf Galatasarays Felipe Melo die Rote Karte sieht und mit provozierenden Gesten vom Platz geht, stürmen aus der Mitte der Gegengeraden erst Dutzende, dann Hunderte Fans das Spielfeld. Plastikstühle fliegen auf Ordner und Polizisten, die sich bemerkenswert zurückhalten und den Ansturm erst vor der Haupttribüne mit Tränengas stoppen.
Noch am Abend beginnt der Streit über die Deutung der Vorfälle. Ein Abgeordneter der AKP twittert, dass Çarsi für die Gewalt verantwortlich sei. Mehr oder weniger deutlich behaupten dies auch die regierungsnahen Medien. Çarsi hingegen versichert, dass man am Platzsturm nicht beteiligt war, und verweist darauf, dass die Çarsi-Leute auf den oberen Rängen saßen.
Türkische Oppositionelle hingegen machen Mitglieder des neuen Fanklubs „1453 Kartalları“ für die Vorfälle verantwortlich. Bislang hatten sich alle Besiktas-Fans unter dem Dach von Çarsi versammelten. „1453“ steht daher im Verdacht, von der AKP gesteuert zu sein. Zumindest grenzt er sich ausdrücklich von der politischen Linie von Çarsi ab, beteuert aber, mit der Gewalt nichts zu tun zu haben. Angehörige von „1453“ saßen beim Derby in der Nordkurve. Gerüchten zufolge sollen sie aber in der Pause auf die Gegengerade gewechselt sein.
Fest steht jedenfalls, wem der Spielabbruch nützt: Für alle, die der offiziellen Propaganda glauben, ist Çarsi diskreditiert. Und Besiktas wird eine Strafe bekommen – von mindestens fünf Heimspielen vor leeren Tribünen ist die Rede. In einem Geisterspiel ruft niemand politische Parolen. Die nun folgenden Heimspiele wird Besiktas übrigens im Stadion des Istanbuler Klubs Kasimpasa austragen. Das heißt ganz unpolitisch Recep-Tayyip-Erdogan-Stadion.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Krieg in Gaza
Kein einziger Tropfen sauberes Wasser