Krankenhaus-Serienmörder Niels Högel: Erst versetzt, dann weggelobt
Im Prozess gegen den Krankenpfleger und Serienmörder Niels Högel zeigt sich: Der Verdacht der Kolleg*innen wurde von den Kliniken ignoriert.
Högel ist bislang der Mörder mit den meisten Opfern in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wegen 100fachen Mordes steht er vor dem Oldenburger Landgericht. Er hat Patient*innen nicht angeordnete Kreislaufmedikamente gespritzt. Die eingeleiteten Wiederbelebungen waren oft erfolglos.
Die Taten soll er zwischen Februar 2000 und Juni 2005 im Klinikum Oldenburg und im Krankenhaus Delmenhorst begangen haben. Sein jüngstes Opfer war 34 Jahre alt, sein ältestes 96. Am heutigen Donnerstag wird nach mehr als sieben Monaten das Urteil gesprochen.
Högel sitzt wegen sechs weiterer Taten bereits eine lebenslange Haftstrafe ab. Das Urteil wird an diesem Strafmaß nichts ändern. Das, was dieser Prozess vor allem bringt, ist Gewissheit für die Angehörigen der Opfer. Högel gestand 43 Morde, an 52 Taten will er sich nicht erinnern, fünf Morde stritt er ab. Und auch wenn es in dem Prozess eigentlich darum ging, Högels Schuld oder Unschuld zu beweisen, so standen immer wieder die Fragen im Mittelpunkt: Was wussten Högels Kolleg*innen? Haben sie einfach weggeschaut?
„Sensen-Högel“
„Rettungs-Rambo“ und „Sensen-Högel“ haben sie ihn genannt. Die Ermittlungen deuten darauf hin, dass er schon früh verdächtigt wurde. Nur ein Indiz dafür ist die achtzehn Jahre alte Strichliste. Unten auf dem Papier ist handschriftlich vermerkt, dass eine Gefährdung der Abteilung und der Klinik nicht zu akzeptieren sei. Die Verdachtsmomente würden nicht ausreichen, um die Staatsanwaltschaft zu informieren, heißt es zudem in der Notiz.
Högel wurde, nachdem die Liste erstellt wurde, zunächst hausintern in die Anästhesie versetzt, dann, 2002, mit einem guten Arbeitszeugnis weggelobt. Er fing auf einer neuen Stelle im Krankenhaus Delmenhorst an und mordete dort weiter, bis er 2005 am Bett eines Patienten auf frischer Tat ertappt wurde.
Die Oldenburger Strichliste von 2001 soll der damalige Leiter der Intensivstation, Bernd N., erstellt haben. Im Verfahren trug sie seinen Namen, die N.-Liste. N. sagte vor Gericht nichts dazu, er berief sich auf sein Aussageverweigerungsrecht. Gegen ihn wird wegen Totschlags durch Unterlassen ermittelt.
Immer wieder zeigte der vorsitzende Richter Sebastian Bührmann Zeug*innen die Liste. N.s Vertreter Johann K., der stellvertretende Stationsleiter, will nichts von der Liste gewusst haben. Die hohe Anzahl von Reanimationen sei ihm nicht aufgefallen. Bührmann ließ keinen Zweifel daran, dass er N.s Aussage wenig glaubte. Er ließ ihn vereidigen, so wie sieben weitere Zeug*innen. Mittlerweile laufen gegen diese acht Ermittlungen wegen Meineids. Gegen zwei weitere wird wegen uneidlicher Falschaussage ermittelt.
Darauf hat das Klinikum Oldenburg reagiert und die betroffenen Mitarbeiter*innen, die noch dort angestellt waren, im Februar freigestellt. Eine mögliche Falschaussage torpediere die Bemühungen der Klinik um lückenlose Aufklärung, hieß es dazu.
Zeugen „auf Linie bringen“
Doch diese Bemühungen der Klinik wurden im Prozessverlauf in Zweifel gezogen. Das Klinikum zahlte allen Zeug*innen aus Oldenburg einen Anwalt. Der heutige Geschäftsführer Dirk Tenzer begründete das vor Gericht mit seiner Fürsorgepflicht und kam selbst mit einem Rechtsbeistand. Manche Zeug*innen sagten, sie hätten das Gefühl gehabt, man wollte sie „auf Linie bringen“. Auch Richter Bührmann fand, dieses Vorgehen erwecke den Verdacht der Zeug*innenbeeinflussung.
Hinzu kommt, dass Tenzer den Behörden Unterlagen erst verspätet aushändigte. Die besagte Strichliste beispielsweise hatte er seit 2014, gab sie aber erst 2016 an die Ermittlungsbehörden. Er habe ihr keine Bedeutung zugemessen und sie zeitweise sogar vergessen, sagte Tenzer. Betriebsarztakten gab er jedoch viel früher freiwillig ab. Die Frage, warum er die Bewertung von Beweisen nicht den Ermittler*innen überließ, blieb offen.
Es gab aber auch Zeug*innen, die offenbar ganz frei aussagten. Sie erklärten, dass sie nichts bemerkt hätten. Oder dass sie ihrem Vorgesetzten einen Verdacht meldeten, aber nichts unternommen wurde. Manche kämpfen deshalb bis heute mit Schuldgefühlen.
126 Angehörige haben sich als Nebenkläger*innen dem Verfahren angeschlossen. Ihnen standen Opferbetreuer*innen des Weißen Rings zur Seite. Die ersten Stuhlreihen in der Oldenburger Weser-Ems-Halle waren für sie reserviert. Wegen der vielen Verfahrensbeteiligten und des großen öffentlichen Interesses wurde die Halle zum Gerichtssaal umfunktioniert. Wenn Zeug*innen befragt wurden, wurde ihr Bild per Video auf zwei große Bildschirme über den Plätzen für Richter und Schöffen übertragen. So konnte ihnen jeder dabei ins Gesicht sehen.
„Kompetenter Lügner“
Auch wenn die Zahl von 106 möglichen Opfern schon unvorstellbar ist, die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. Darin waren sich auch in diesem Prozess fast alle Beteiligten einig. Zum einen sind nicht alle Menschen, denen Högel etwas spritzte, gestorben. Opfer sind sie trotzdem. Hinzu kommt: Zwischen den hier angeklagten Taten liegen teilweise mehrere Wochen. Högel selbst sagte, er erinnere sich nicht, jemals eine längere Pause gemacht zu haben.
In seinen letzten Worten vor Gericht wandte er sich an die Angehörigen der Opfer. Er wolle sich „bei jedem Einzelnen für all das, was ich ihnen über Jahre angetan habe“, entschuldigen. In früheren Aussagen hatte er noch auf das Leben seiner Tochter geschworen, in Oldenburg nicht getötet zu haben, erst später dann hatte er gestanden. Ein Gutachter bezeichnete ihn als „kompetenten Lügner“.
Högels Worte, die Zeug*innenaussagen, der gesamte Prozess wird für die Angehörigen ein schwerer Weg gewesen sein. Erst verloren sie einen geliebten Menschen, dann mussten sie erfahren, dass ihre Mutter, ihr Mann, ihr Vater, wahrscheinlich umgebracht wurde.
Diesen Menschen gab Rechtsanwältin Gaby Lübben, die über 100 Hinterbliebene vertritt, in ihrem Abschlussplädoyer ein Gesicht. Sie zeigte Fotos einiger Verstorbener auf den Leinwänden, erzählte aus ihrem Leben, davon, welche Träume sie hatten, worauf sie sich gefreut hatten und was sie nicht mehr erleben durften. Immer wieder brach dabei ihre Stimme. Als Lübben ihr Plädoyer beendet hatte, brach im Gerichtssaal Applaus aus.
Staatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann forderte eine lebenslange Haft sowie die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Högels Schuldfähigkeit wurde von keiner Seite angezweifelt.
Allerdings ist aus Schiereck-Bohlmanns Sicht Högel bei nur bei 97 Menschen der überführte Mörder. Für Högels Verteidigerinnen gelten nur 55 Morde als bewiesen, 14 Taten stuften sie als „versuchten Mord“ ein, für alle anderen forderten sie Freispruch. Dass das Gericht für Högel die Sicherungsverwahrung anordnet, wollten weder die Staatsanwältin noch die Verteidigerinnen, weil aus ihrer Sicht nicht die rechtlichen Voraussetzungen dafür gelten. Manche Nebenklageanwält*innen sahen das anders.
Klar ist, dass mit Abschluss des Prozesses nur ein Kapitel im Fall Högel geschlossen werden wird. Gegen vier ehemalige Kolleg*innen aus Delmenhorst wird wegen Totschlag durch Unterlassen Anklage erhoben werden. Sie sollen von Högels Taten gewusst und geschwiegen haben. Sobald Högel rechtskräftig verurteilt ist, werden diese Prozesse starten. Ermittlungen wegen desselben Vorwurfs laufen auch gegen Kolleg*innen aus Oldenburg, hinzu kommen die Vorwürfe des Meineids. Bei diesen Verfahren und Ermittlungen wird wohl auch die Strichliste des Stationsleiters eine Rolle spielen. Denn allein die Tatsache, dass diese Liste erstellt wurde, bedeute, dass bestimmte Personen Auffälligkeiten bemerkt und Högel im Visier hatten, sagte Schiereck-Bohlmann in ihrem Plädoyer.
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