Konzert von Aida Shirazi in Berlin: Der Schatten der Gewalt

Prozesse der Natur haben die iranische Komponistin Aida Shirazi inspiriert. Doch in ihrem Konzert in Berlin ging es auch um die Revolution in Iran.

Aida Shirazi steht bei ihrem Konzert im Radialsystem an einem elektronischen Pult

Aida Shirazi bei ihrem Konzert im Radialsystem Foto: Anthony Katrakazis

So klingt die Katastrophe: „Revolution kills. Revolution births (…) Let the enemy know the end lurks under the throbbing sea of blood“, krächzt eine verzerrte Stimme aus dem Off. Vor einem Laptop und einem Mischpult sitzt eine schmale Frau mit dichten kurzen Haaren und schwarzer Kleidung.

Mit konzentriertem Blick und schnellen Handbewegungen füllt sie den dunklen Raum mit dumpfem Dröhnen und Sirren. Das klingt wie fernes Donnergrollen oder ein nahendes Erdbeben. Ohne Zweifel: Eine Katastrophe ist im Anmarsch.

Aida Shirazi heißt die Schöpferin dieser dystopischen Klangfläche. Das Schaffen der jungen iranischen Komponistin (*1987) bildet das Herzstück des Konzertes „EXT INC/ REMEMBER ME“, eine Uraufführung kurz vor Weihnachten in der „transtraditionalen“ Konzertreihe Outernational, die sich im Berliner Radialsystem mit neuen Klängen und Formaten auseinandersetzt.

Opernliebhaber erahnen in dem bedeutungsschwangeren Titel die sterbende Königin von Karthago, die in Purcells „Dido and Aeneas“ die Worte „Remember me, but forget my fate“ singt, nachdem sich ein Prinz mit zweifelhaften Prioritäten gegen ihre Liebe und für den Krieg entschieden hat. Auch das Wörtchen „extinct“ – ausgestorben – versteckt sich darin und erinnert an das weltweite Artensterben.

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Wie Verlust und Verfall klingen, spürt Shirazi in einer Soloperformance für Elektronik nach. Den Text dafür hat sie selbst geschrieben. Die Worte für „distempered corpses and distilled winds“ – das Hauptwerk des Abends – leiht sie sich von Walt Whitman. Inspiriert von den damals neuesten Erkenntnissen der Biochemie schrieb der amerikanische Nationaldichter 1856 ein Gedicht über die wundersamen Kräfte der Natur, die krankes Fleisch und abgestorbene Körper zu fruchtbarer Erde zersetzen und daraus frisches Leben keimen lassen.

Alles verliert sich wieder

Der Prozess der Verwesung klingt nicht angenehm. Quietschend erinnern Streicher, Perkussion, Klarinette, Klavier und Elektronik an den Sound kriechender Termiten und erzählen in kratzenden Glissandi von brennendem Schmerz. Klänge finden sich einen Atemzug lang und verlieren sich sofort wieder. Alles zerfällt, erstirbt und verläuft im Nichts.

Dazu flüstern die Musiker mit erstickter Stimme Whitmans morbide Verse: „O how can it be that the ground itself does not sicken?… Are they not continually putting distemper’d corpses in you?“

Angesichts der vielen, teils tödlichen Gewalt­akte, die das iranische Regime dieser Tage an den vielen Frauen und Männern begeht, die seit der Ermordung der 22-jährigen Masha Amini durch die islamistische Sittenpolizei für Freiheit und Selbstbestimmung auf die Straße gehen, wiegen diese Sätze schwerer denn je. Der Schatten der politischen Ereignisse reicht bis ins Berliner Radialsystem. Auf Aida Shirazis schlichten Kapuzenpullover sind die Worte „Women, Life, Freedom“ aufgedruckt – die Parole der iranischen Protestbewegung und unausgesprochenes Motto des heutigen Konzerts.

Aida Shirazis Konzert wird noch einmal gespielt am 28. April 2023 in Dresden Hellerau.

Shirazi, die nach einem Klavierstudium in Teheran ihre musikalische Ausbildung in Istanbul, Kalifornien und Paris fortgesetzt hat, ist Mitbegründerin der Iranian Female Composers Association. Iranischen Komponistinnen, die in ihrer Heimat zum Schweigen gebracht werden, will das Netzwerk weltweit ein Gesicht und eine Stimme geben. „How do we stay radically hopeful?“, fragt sie in einem Instagram-Post, in dem sie die Berliner Uraufführung ankündigt.

Eine mögliche Antwort liefert ihre Musik: Im zweiten Teil von „distempered corpses and distilled winds“ geht auf einmal ein Beben durch das siebenköpfige Ensemble. Wie eine überreiche Frucht kurz vor dem Platzen erzittert es in intensiven Tremoli und murmelt: „The resurrection of the wheat appears with pale visage out of its graves.“ Es gibt sie also doch, die Hoffnung, dass der blutgetränkte Boden einst im ewigen Frühling erblühen wird. Revolution kills. Revolution births – vielleicht sogar ein Versprechen?

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