: Konzert für zwei – oder mehr
Christina Thürmer-Rohr wird heute 65. Ein politisches Porträt der Musikerin, feministischen Vordenkerin und Professorin
von UTE SCHEUB
Eine Politik der Pluralität geht von der Gleichberechtigung verschiedener Stimmen aus, nicht von ihrer Gleichheit, von der Vielstimmigkeit, nicht von der Einstimmigkeit. Hannah Arendt verwendet häufig die Metapher des Konzerts, um das Miteinander-Handeln und -Sprechen zu kennzeichnen. In einem „Konzert“ ist jede Stimme unentbehrlich, jede hat ihren Wert und ihre Bedeutung, egal ob sie viel oder wenig, solistisch oder begleitend beteiligt ist. („Am Thema bleiben“, 1995)
Politik als Konzert, als vielstimmiger Dialog, als Polyphonie. Überall im Werk von Christina Thürmer-Rohr hat Musik ihre Spuren hinterlassen. Die Berliner Professorin, die heute 65 Jahre alt wird, ist schon immer auch Musikerin gewesen: Pianistin, Organistin, Keyboarderin, Texterin. In den Achtzigerjahren legte sie mit der Frauenband „Außerhalb“ Platten und Auftritte hin, in den Neunzigern komponierte sie zusammen mit Laura Gallati experimentelle Ton-Text-Projekte über den Dialog als musikalisch-politisches Prinzip und die Gemeinsamkeiten der Werke von Johann Sebastian Bach und Hannah Arendt. Genauer: Bachs und Arendts Vorliebe für Polyphonie – das Wechselspiel von Form und Inhalt, Harmonie und Streit, Gegen- und Miteinander, individueller Autonomie und gesellschaftlichem Chor.
Auch Christina Thürmer-Rohr und Laura Gallati sind ein Miteinander und manchmal streitbares Gegeneinander, ein Paar seit 1993. Damals, als sie sich in Luzern kennen lernten, war Gallati noch politische Aktivistin. Fünfzehn Jahre hatte sie als Abgeordnete im Schweizer Bundesparlament für grüne und feministische Inhalte gearbeitet, dann schmiss sie 1996 alles hin und zog zu ihrer Tina nach Berlin. Tina Thürmer-Rohr und Laura Gallati, beide dunkelhaarig, beide Klavierspielerinnen, beide Mütter von Söhnen, beide Töchter von Vätern aus dem heutigen Polen. Nur dass der eine Vater jüdisch war und der andere Nazi. Tinas Vater war evangelischer Pfarrer und überzeugter Wehrmachtsoffizier – was wesentlich zu ihrer Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und schließlich zu ihrer berühmten Mittäterinnen-These beitrug. Frauen seien keineswegs nur Opfer, sondern auch Mittäterinnen, so provozierte sie Anfang der Achtzigerjahre die feministische Szene. Unter Hitler hätten viele das blutige Treiben ihrer Nazimänner unterstützt und materiell davon profitiert; auch heute noch seien weiße Frauen Mittäterinnen und Mitprofiteurinnen in der rassistisch-imperialistischen Dominanzkultur des weißen Mannes.
Christina Türmer-Rohr wurde 1936 in Arnswalde, heute Choszczno, geboren. Ihr Vater fiel 1941 im Krieg. Von der Front hatte er seinen beiden Töchtern viele glühende Briefe geschrieben, allesamt durchdrungen von einer schwer erträglichen Mischung aus Liebe und Lüge, aus totalem Kitsch und totalem Krieg: „Du mußt recht froh und stolz sein, dass dein Vati ein deutscher Soldat ist und du selbst auch schon ein bisschen Soldat, weil du dem Vaterland und dem Führer ein so großes Opfer bringst und deinen Vati hergibst, dass er an deinem Geburtstag nicht bei dir, sondern an der Front ist. Denn wer seinem Vaterland Opfer bringt, der ist ein Soldat, auch wenn er ein kleines Mädchen ist ...“ Damals verehrt sie den Vater, später wendet sie sich ab mit Grauen.
Denn was macht ein Kind, dem auf der einen Seite von dem Repräsentanten des „Guten“ suggeriert wird, es sei stark, lieb, tapfer, froh etc., das aber gleichzeitig täglich die gegenteilige Erfahrung mit sich selbst macht: So war ich schüchtern, sperrig und nervös, oft unglücklich und sehr oft unfreundlich, ein so genanntes schwieriges Kind. Alle Eigenschaften, die gefordert waren, besaß ich nicht so recht. In Wirklichkeit hatte ich vor tausend Dingen Angst: vor Mäusen, Fröschen und Gewitter, vor allen fremden Leuten; ich ging nicht allein vor die Tür, wollte nicht in den Kindergarten, kannte jahrelang kein einziges Kind außer meiner Schwester; ich schielte und hatte schon mit drei Jahren eine Brille, ein Gesundheitsmakel. Mein Vater blieb mir unheimlich. („Vagabundinnen“, 1987)
Vor der anrückenden Sowjetarmee flüchtet die Famile 1943 nach Westfalen. Von 1945 bis 1967 wohnen die Rohrs unter ärmlichen Umständen in Bethel.
1945 kamen wir in die Krankenanstalt Bethel, aufgenommen aus christlicher Nächstenliebe wie viele andere ehemaligen Bewohnerinnen deutscher Ostgebiete, meine Mutter, meine Schwester und ich. Meine kurze Kindheit war bereits angefüllt mit düsteren Eindrücken. Schwarz gekleidete Frauen, die oft weinten, Fotos in unserer Wohnung vom Grab meines Vaters in Russland. Über den Krieg wurde hartnäckig geschwiegen. Ich fühlte mich nirgends hingehörig. Ich blieb möglichst zu Hause, am liebsten am Klavier in dem Zimmer, in dem ich immer allein zu sein versuchte, auf dem Drehstuhl, meinem Hauptaufenthaltsort außerhalb der Schule. („Vagabundinnen“, 1987)
Mit siebzehn wird Tina Hilfsorganistin in der Zionskirche Bethel, mit zwanzig beginnt sie in Freiburg zu studieren: Musik, Germanistik, Romanistik, später auch Psychologie und Philosophie. 1964 geht sie nach Berlin, promoviert, leitet eine psychologische Beratungsstelle, beschäftigt sich als Assistenzprofessorin an der TU mit Stadtplanungsprojekten und gerät mitten hinein in den Aufruhr der Studentenbewegung. 1972 heiratet sie den Architekten Ludwig Thürmer und gebiert Sohn Til.
Doch bald schon erlebt sie die neuen marxistischen Erkenntnisse der 68er-Bewegung als hohl. Aufgewachsen unter Frauen, verspürt sie ein tiefes Bedürfnis, sich mit Frauen zu verständigen, aber der Marxismus hat hier nichts anzubieten. 1976 gründet sie den Studienschwerpunkt Frauenforschung an der Pädagogischen Hochschule Berlin und den Verein „Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen“ in Köln. 1980 wird sie Professorin am Fachbereich Erziehungswissenschaften der TU Berlin, Schwerpunkt feministische Forschung, später Menschenrechte. Wenn sie nicht an der Uni ist, sitzt sie am Klavier oder singt in ihrer Rockband „Außerhalb“. Als außerhalb hat sie sich immer empfunden, außerhalb will sie auch sein.
Ich will was sagen
aber jedes Wort wird lächerlich
jeder Spruch, alles viel Gerede
ist zu schwach, ist zu flach
ist auch viel zu spät
alle Worte sind gesagt
sind geschrieben, sind beredet
sie sind leer geredet
diese Erde ist ein riesiges Irrenhaus
jede Minute
werden Milliarden Dollar verschleudert
für den heißen Krieg
für den kalten Krieg
für den großen Mord
(„Außerhalb“, 1981)
Anfang der Achtzigerjahre ist die Zeit des Nato-Doppelbeschlusses, und Tina Thürmer-Rohr, meist schwarz gekleidet, gehört zu denen, die vom nahen Ende der Menschheit in einem Atomkrieg überzeugt sind. In ihren Essays ruft sie die Frauen dazu auf, keiner Utopie mehr zu trauen und „hoffnungslos gegenwärtig“ zu leben. Die vergiftete, verseuchte Erde sei nicht mehr zu retten, Weiblichkeit sei kein „Putz- und Entseuchungsmittel“, und eine Heimat, einen Ort der Rettung, gebe es nicht. Die Professorin, vom Wesen her eher scheu und schüchtern, sparsam mit ihren öffentlichen Auftritten, hat mit ihren Texten dennoch enormen Einfluss auf die Frauenbewegung. Ihre 1987 veröffentlichte autobiografisch gefärbte Essaysammlung „Vagabundinnen“ gilt vielen als „Bibel“. In heutigen Zeiten von realem Terror und Krieg wieder gelesen, wirken manche apokalyptisch angereicherten Sätze befremdlich. Selbst diejenigen, die vom Glück handeln, zeugen von einer unüberwindbar tiefen Traurigkeit.
So ist die Erfahrung von Vollkommenheit in der Musik keine Täuschung. Das ‚Glück‘, das Musik vermitteln kann oder von dem sie eine Ahnung gibt, ist kein Irrtum. Und dabei ist Musik keine Sendung aus dem Jenseits. Sie ist menschengemacht, sie ist ganz und gar diesseitig, und ihre Erfahrung ist gegenwärtig und menschenmöglich. Solche Erfahrungen sind allerdings keine heiteren. Wie alle intensiven Erfahrungen sind es auch immer Erfahrungen unendlicher Trauer. Trauer und Erkenntnis gehören zusammen. („Vagabundinnen“, 1987)
Statt des Weltuntergangs erlebt die Welt Gorbatschow, die DDR die Wende und Tina Thürmer-Rohr eine neue Liebe. In den Neunzigerjahren hellen sich ihre Texte auf, werden freundlicher, menschenzugewandter, und sie lässt sich von Hannah Arendts „Anfreundung mit der Welt“ hinreißen. Arendts Denken kreist um die Anerkennung der Verschiedenheit, um Dialog und Pluralität als Immunisierung gegen Totalitarismus.
Dialog ist kein Instrument der sanften Konfliktlösung und verspricht keine Heilung. Aber er macht die eingesessenen und weitergetragenen Sortierungen sichtbar, er kann die Perspektiven verändern, das Unrechtsbewusstsein erweitern, Scheinsicherheiten und Selbstgerechtigkeiten stören. Im Dialog realisiert sich das Leben als inter-esse: unter Menschen weilen, zwischen Menschen sein, mit Menschen zu tun haben. („Jede Sache hat so viele Seiten, als Menschen an ihr beteiligt sind“, 2000)
Unter dem Einfluss von Hannah Arendt und des Dekonstruktivismus wird Thürmer-Rohr jedoch immer misstrauischer gegen jede Art von Kategorisierung. Das Klassifizieren in Rassen und Klassen sei ein „Gewaltakt“, mit dem die jeweils „Anderen“ aussortiert würden. In einem Vortrag vor einem Kongress der Heinrich-Böll-Stiftung zum Thema Geschlechterdemokratie zeigt sie sich im Jahre 2000 überaus skeptisch gegenüber „geschlechtsspezifischen Identitätsbehauptungen“.
Die Kritik trifft auch das feministische Subjekt „die Frau“. Diese angebliche Einheit „Frau“ ist nichts als das Ergebnis von Kategorisierungsverfahren, die selbst Ausdruck von Gewalt sind, einer gewaltsamen Einteilung der Vielheit der Menschen in zwei Geschlechter. Mit einer Kritik, die sich gegen alle Kategorisierung von Menschen richtet, die deren Pluralität zerstören, bleibt von der Zweigeschlechtlichkeit und vom so genannten Weiblichen nicht viel mehr übrig als das einfältige Ergebnis eines einfältigen Herrschaftsaktes. In dieser Sicht sind „die Frau“ und „das Weibliche“ ein totalitärer Reflex auf eine totalitäre Geschlechterpolitik. ( „Veränderungen der feministischen Gewaltdebatte in den letzten dreißig Jahren“, 2001)
Und nun? Jetzt, da alle Begriffe theoretisch zu Ende dekonstruiert sind, sind wir praktisch mit der totalitärsten Geschlechterpolitik konfrontiert, die es je gab: den von den Taliban terrorisierten afghanischen Frauen unter der Burka. Und alles Denken muss noch einmal von vorn beginnen.
UTE SCHEUB, 44, zählt zu den taz-GründerInnen und lebt als Journalistin in Berlin
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