Konversion in Brandenburg: Was nach Kriegen übrig bleibt
In der Vergangenheit wurden große Flächen in der Nähe von Berlin und Potsdam militärisch genutzt. Was macht man nun damit? Eine Begehung.
L ost Places, „verlorene Orte“: Diese Bezeichnung passt gut auf die Flächen, auf die man immer wieder in Brandenburg stößt. Eingezäunte Wälder voller Gestrüpp, die man häufig umständlich umfahren muss, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Weitläufige Landstriche mit verfallenden Betonruinen. Gebiete, die allein durch ihre Absperrung neugierig machen und durch ihre militärische Vergangenheit Großmachtsfantasien bei Rechten wecken. Wo in den zusammenfallenden Panzerhallen der Sowjetarmee der Lack von Wandbildern mit martialischen Kriegsmotiven bröckelt, Glasscheiben zerbersten und massive Betonschichten Ritze um Ritze den Kampf gegen die Natur verlieren, die sich ihr Territorium zurückerobert.
Es sind düstere Dornröschenorte, die auf ihre Entdeckung hoffen. Ihr Reiz liegt in ihrer Vergänglichkeit. Die Leere, die sich hier ausgebreitet hat, füllt sich nur in der Fantasie des Besuchers mit Leben.
Der Volkswirt Markus Hennen ist seit vielen Jahren der Konversionsspezialist in Brandenburg, er beschäftigt sich mit der Umwandlung ehemaliger Militäranlagen zur zivilen Nutzung. Markus Hennen begleitet mich auf einer Tour durch das größtenteils abgesperrte Militärgebiet rund um Jüterbog südlich von Berlin. „Hier wurden Kriege geplant, von der Kaiserzeit über die Nazis bis zu den Russen“, sagt Markus Hennen auf der Fahrt von Jüterbog ins acht Kilometer entfernte Niedergörsdorf. Das Ziel: der Ortsteil Altes Lager mit seinem riesigen Militärareal. Es ist ein weitläufiges Gebiet, wo man immer wieder auf bröckelnde Betonboten der Vergangenheit stößt.
Den Schießplatz in Altes Lager bauten 1870/71 rund 9.000 französische Kriegsgefangene aus, in Zwangsarbeit. 1916, im Ersten Weltkrieg, entstand auf dem Gelände ein Zentralluftschiffhafen mit chemischer Fabrik und Luftschifferkaserne. In der Zeit des Nationalsozialismus seit dem Jahr 1933 waren hier ein Fliegerhorst, eine fliegertechnische Schule sowie ein Luftzeugamt untergebracht.
Im Ortskern von Altes Lager wurden die typischen roten Klinkerkasernen aus der Kaiserzeit schon in den dreißiger Jahren ergänzt durch Kasernengebäude, Wohnhäuser für die Offiziere sowie ein riesiges Kino. Später war dort eine umfangreiche Sowjetgarnison untergebracht, der Ort Altes Lager lag darum bis Anfang der 1990er Jahre inmitten des militärischen Sperrgebietes.
Die Fotos
hier auf den Seiten zeigen die miltärisch geprägte „verbotene Stadt“ Wünsdorf mit den Hinterlassenschaften der Roten Armee. Festgehalten hat sie der 1992 geborene und in Wünsdorf aufgewachsene Fotograf Johann Karl. Sie finden sich in dem 2020 im Kerber-Verlag erschienenem Fotoband „Die verbotene Stadt“.
Acht Prozent der Landesfläche Brandenburgs waren zu DDR-Zeiten Militärgebiet, sagt Markus Hennen. Seit dem Abzug der russischen Armee im Jahr 1994 versucht Brandenburg das Erbe der großen Militärareale in eine zivile Nutzung zu überführen. Ein Teil des aufgegebenen Militärflugplatzes beispielsweise wurde 1999 vom Drachenflieger-Club Berlin e. V. gekauft. Die Mietskasernen im Ortskern, zwischen hohen Birken im Grünen gelegen, wurden restauriert und zum großen Teil an Aussiedler aus Russland vermietet. Ein russischer Chor hat sich dort gegründet. Die RTL-Serie „Hartz und herzlich“ wurde in den Plattenbauten im Alten Lager gedreht.
Dort erinnert auch ein Obelisk an die hier 1870/71 verstorbenen französischen Gefangenen, die den Schießplatz ausbauen mussten. Zum Gedenken an die „durch das Kriegsunglück aus Sachsen nach Jüterbog geführten französischen Soldaten …“ steht dort in Latein.
Großzügige Salons
Gleich gegenüber dem Obelisken im ehemaligen Nazi-Offizierscasino, heute nur „das Haus“ genannt, trafen sich in den 30er Jahren Nazi-Offiziere zum geselligen Beisammensein in stilvoller Atmosphäre. Der große, herrschaftliche Bau sticht heraus zwischen den ihn umgebenden Plattenbauten. In den großzügigen Salons des ehemaligen Offizierscasinos mit hohen Wänden, schweren Holztüren, ausgewählten Materialien, vom Parkett über Marmor bis zur Holzverkleidung, stehen heute noch vereinzelt elegante Vintage-Sessel, die vom repräsentativen Hochglanz erzählen, dem wohlfeilen Lebensstil der Nazi-Elite. Heute befinden sich hier ein Kulturzentrum, ein Standesamt sowie das Garnisonsgeschichtsmuseum.
„Hier finden Konzerte, Kabaretts, Lesungen, Seniorennachmittage, Theaterprojekte statt“ sagt die ehrenamtliche Leiterin Andrea Schütze, die wir unangemeldet zwischen Kaffeekränzchen und Treffen mit Gemeinderäten erwischen. Es sei ihr ganz besonders wichtig, dass sich hier wieder eine Laientheatergruppe bildet, ein Theatersommer etabliert wird und dass alle hier Kultur als Bildung verstünden.
Die Chancen dafür stehen gut in der 6.500-Einwohner-Gemeinde Niedergörsdorf: Das Kulturzentrum bekam im Januar Fördergelder in Höhe von 240.000 Euro für die Jahre 2024 bis 2026. Das Haus gilt als „regionaler kultureller Ankerpunkt im ländlichen Raum“, als einziger im Landkreis Teltow-Fläming.
„Wir haben festgestellt, dass die meisten Leute gar nicht wussten, was hinter diesen Riesenbauten steckt“, erzählt mein Begleiter Markus Hennen beim Gang durch die Dauerausstellung „Altes Lager – 1870 bis heute“ im Kulturzentrum. 1993 haben sie erstmals einen Tag der offenen Tür organisiert durch die Kasernen rund um die Stadt Jüterbog. Acht große Reisebusse hatten sich angemeldet. Das Interesse sei bis heute sehr groß, sagt Markus Hennen.
Exerzieren zwischen Kiefern
Brandenburg, das ist Bauern-und Soldatenland. Wobei die sandigen Böden sich eindeutig besser zum Exerzieren als zum Kultivieren eignen. Der militärische Drill scheint sich in die Landschaft eingegraben zu haben, wie dürre Zinnsoldaten stehen die Kiefern in Reih und Glied. Schon Friedrich der Große hat diese Natur zum militärischen Drill genutzt. Hier, vor den Toren Berlins, wurden blutige Kämpfe ausgetragen, vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den letzten Schlachten im Zweiten Weltkrieg.
Diese Geschichte hat nicht nur verfallende Betonbauten hinterlassen, sondern auch Überreste und Militärmüll des kaiserlichen Heeres, der Reichswehr, der Wehrmacht, der Nationalen Volksarmee, des Ministeriums für Staatssicherheit und der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Überall warnen Schilder vor dem militärischen Müll. Die militärisch vorgenutzten Flächen seien gefährlich, sagt Markus Hennen, denn nach Kriegsende habe man vieles einfach in irgendwelche Löcher verbuddelt.
Das seien natürlich enorme Umweltbelastungen: „Es gibt viele dieser Granaten oder Bomben, die irgendwo im Erdreich lagern, chemische Zünder, wo die Chemikalien, die aufeinander wirken, sich zersetzen. Und es ist schon mehrfach zu Explosionen gekommen. Hinzu kommt jetzt in den letzten Jahren die erhöhte Waldbrandgefahr.“ Noch heute sind täglich im ganzen Land Suchtrupps unterwegs.
Brandenburg war durch die Nähe zu Berlin ein bevorzugter Standort für alle möglichen militärischen Waffengattungen und Forschungseinrichtungen. Allein Potsdam, eine bürgerliche Residenzstadt mit Schlössern und Gärten, war zu einem Drittel sowjetisches Armeegelände. In der dortigen „Verbotenen Stadt“, heute wieder ein Villenviertel, logierte der KGB. Über fast 50 Jahre unterhielt der sowjetische Geheimdienst hier einen seiner wichtigsten Stützpunkte in der DDR. Auch Putin soll hier aus und ein gegangen sein.
Immer noch fährt man an vielen Ausflugszielen in Brandenburg mit dem Fahrrad auf verrotteten Plattenwegen, über die früher Panzer rollten. Es ist eine ungemütliche Rütteltour durch die einsame Landschaft, weil die Wege voller Schlaglöcher und Unebenheiten sind.
Dafür entwickelt sich mitten in Brandenburg Wildnis: Auf vier ehemaligen Truppenübungsplätzen (Jüterbog, Heidehof, Lieberose und Tangersdorf) entstehen Naturlandschaften, wo sich Fuchs und Wolf gute Nacht sagen und deren „Ausdehnung, Unzerschnittenheit und Wildnisentwicklung“ die Stiftung Naturlandschaften Brandenburg lobt. Die Stiftung setzt sich auch für die ökologische Vernetzung der Flächen ein, durch Wanderwege und geführte Exkursionen werden diese Gebiete erlebbar.
Rund 90 Prozent der militärischen Flächen werden heute bereits neu genutzt, andere wie das neue Stadtquartier Krampnitz im Norden Potsdams werden folgen. Auf dem ehemals militärisch genutzten Gelände sollen auf 140 Hektar schon bald 10.000 Menschen leben.
Notsicherung in der Peripherie
„Aber es gibt auch Flächen, für die noch keiner sich gefunden hat. Auch weil viele dieser Gebäude unter Denkmalschutz stehen und dieser die Restaurierung teuer macht“, sagt Markus Hennen. Andere liegen zu weit in der Peripherie. In diesen Fällen versuche das Land eine Notsicherung zu machen, „damit man Zeit gewinnt, weil irgendwann, so hofft man, findet sich dann doch jemand, der das Gebäude oder das Areal revitalisiert“.
Die Aussichten dafür sind nicht schlecht. Durch die Nähe zu Berlin und den immer teurer werdenden Wohnraum in der Stadt steigt die Nachfrage auf dem Land. Viele Gebäude, die noch vor einigen Jahren zum Abriss vorgesehen waren, werden nun instand gesetzt. Mitverursacher dieser Entwicklung seien aber auch die gestiegenen Baukosten, meint Konversionsspezialist Markus Hennen.
Bei Zossen, etwa 48 km von Altes Lager entfernt, liegt mit Wünsdorf-Waldstadt ein weiterer Ort mit militärischer Geschichte. Wünsdorf war der Hauptsitz des Oberkommandos der Wehrmacht, von hier aus steuerte die deutsche Seite den Zweiten Weltkrieg. Von Wünsdorf gingen die Telefonleitungen zu den Armeen aus, hier wurden die geheimen Befehle weitergeleitet, hier trafen die Berichte von der Front ein. 1937 begann der Bunkerbau in Wünsdorf – streng geheim. Viereinhalbtausend Menschen sollen hier gearbeitet haben.
Sybille Rademacher leitet das heute idyllisch in Waldstadt gelegene Bunkerareal. Die redegewandte Frau, früher Journalistin, organisiert Führungen. „Wir sind eine private GmbH. Das funktioniert alles recht gut“, sagt sie. Sie hätten großen Zuspruch, im Jahr so um die 25.000 Besucher.
Rademacher zeigt die 58 Hektar große parkähnliche Anlage mit den riesigen Betonbergen gesprengter Generalstabsbunker und zusammengefallener Bauten. Wir betreten den unterirdischen Nachrichtenbunker Zeppelin im Zentrum, Sybille Rademacher öffnet schwere Eisentüren, schiebt rasselnde Gitter zur Seite. Hinter einer Tür steht in einer dunklen Ecke völlig unbeachtet auf einem Schemel der Kopf einer Lenin-Statue.
Wir laufen durch breite Gänge, in denen man die Orientierung verliert. Der drei Stockwerke tiefe Bunker hat eine Nettonutzfläche von 14.700 Quadratmetern. Der Weg durch die langen Gänge und leeren Hallen fühlt sich nicht klaustrophobisch an. Hier wurde ein großzügiges High-Tech-Zentrum unter der Erde gebaut, für damals modernste Technik und die Telefonist*innen, die die Wehrmacht mit dem Rest der Welt verbanden.
Hauptquartier der Reichswehr
Schon 1912, im Kaiserreich, entstanden in Wünsdorf zahlreiche Kasernenanlagen, 1912 das Fernsprech- und Telegrafenamt und 1913 die Infanterieschule. Durch den Ersten Weltkrieg forciert – Wünsdorf war auch Sitz des Hauptquartiers der Reichswehr – entstand die Kaiserliche Turnanstalt, die von 1919 bis 1943 in die Heeressportschule überging. Es folgten weitere Kasernenbauten, ein Lazarett und Pferdeställe.
1933 wurde auf dem Truppenübungsplatz der erste Panzerverband der künftigen deutschen Wehrmacht untergebracht. Im März 1935 bezog das Oberkommando der Wehrmacht sein Hauptquartier. Um die Arbeiter und Angestellten der Wehrmacht unterzubringen, begann man eine Waldsiedlung im Norden des Ortes zu bauen.
Die bestehenden Militärsportanlagen wurden im Jahr 1936, im Vorfeld der Olympischen Spiele, für das Training der deutschen Mannschaft genutzt. Zur gleichen Zeit entstand die Militär-Badeanstalt.
Wünsdorf, die verbotene Stadt
Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im April 1945 wurde Wünsdorf inoffiziell zur verbotenen Stadt. Verboten, weil das Gebiet für DDR-Bürger tabu war, wenn sie keinen Arbeitsplatz vor Ort hatten. Der militärische Führungsstab des sowjetischen Marschalls Schukow nahm sein Quartier in Wünsdorf. Die Heeresbäckerei – ein riesiger Bau – wurde bis 1994 weiter als Bäckerei genutzt. „Die haben dort Kastenbrot hergestellt. Und es gibt Anwohner, mit denen ich gesprochen habe, die haben gesagt, das war das beste Brot, was sie in ihrem Leben gegessen haben“, erzählt Sybille Rademacher.
Lutz Birkholz, freiberuflicher Kurator, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Konversion. Er hat eine Fotoausstellung dazu im kleinen Wünsdorfer Heimatmuseum kuratiert. Die Fotos zeigen die ehemalige Brotfabrik Wünsdorf oder alte Postkarten von 1912 mit Gruß aus der Militärstadt Wünsdorf für die Lieben daheim.
Auch Fotos von der ersten Moschee in Deutschland sind zu sehen: Im sogenannten Halbmondlager Wünsdorf wurden ausschließlich feindliche Soldaten islamischen Glaubens festgehalten, die in dem 1915 errichteten Gotteshaus ihren religiösen Praktiken nachgehen konnten.
Birkholz hat diese Ausstellung für das Themenjahr „Kulturland Brandenburg“ ausgerichtet. Sie hätten das Thema „Baukultur leben“ mit der speziellen Problematik der unzähligen Militärgebäude im Landkreis Teltow-Fläming verkoppelt, erzählt er.
Das Nischenthema Militärgeschichte habe in der Kulturszene einen schmuddeligen Ruf, sagt Lutz Birkholz. Damit, so die Befürchtung, beschäftigen sich nur Militärs und Rechte. Die unglaubliche Bedeutung, die das Militär im Armeestaat Preußen für die gesellschaftliche Entwicklung hatte, bleibe so komplett unbeachtet oder, schlimmer noch: den Rechten überlassen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Das hat zur Folge, dass die übrig gebliebenen Großbauten im Landkreis wie die Heeresbäckerei nur schwer Investoren finden, die ihr Geld in den Erhalt solcher denkmalgeschützten Ensembles stecken. Was fängt man also damit an?
Lutz Birkholz hat eine Antwort: „Ich denke, das geht nur mit einer klaren Entscheidung zwischen ‚Das kann weg‘ und ‚Dieses ist so wichtig, dass der Staat in Vorleistung geht‘.“ Das Land müsse einspringen, kleinere Betrieben und Vereinen seien damit „sowohl finanziell als auch organisatorisch“ überfordert.
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