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Kontrolle Zwei Prozent der Fläche Deutschlands sollen bis 2020 Wildnis werden. Ungezähmte, um sich greifende Natur. Schaffen wir es, die Finger von unserer Umwelt zu lassen?Halb so wild

Aus Muhl und Jüterbog Philipp Brandstädter

In den Wipfeln der jungen Bäume hängen lose Äste von älteren, die schon lange nicht mehr gestutzt wurden. Morsche Stämme graben sich ins Laub, von Moosen und Pilzen bewachsen. Neue Triebe breiten sich aus und verzweigen sich zu Büschen. Vor allem am Ufer des Bachs, wo roter Fingerhut und seltene Farne geschossen sind. Die Wildnis im Nationalpark Hunsrück-Hochwald zu bestaunen und dabei nicht verloren zu gehen fällt gar nicht so leicht. Ständig muss man aufpassen, dass man im Dickicht nicht über herumliegende Baumstämme stolpert.

Ein paar Meter weiter stehen die Bäume in Reih und Glied. „Auf der einen Seite die Wildnis, auf der anderen das Geld“, sagt Alexandra Bloch und überprüft den Stamm einer Fichte, die ihre Krone etwas schlapp hängen lässt. Bloch ist Rangerin im Nationalpark Hunsrück. Sie hat schon für beide Parteien gearbeitet. „Früher habe ich wirtschaftlich gedacht. Du sieht einen Baum und weißt: Für so und so viel lässt der sich verkaufen. Jetzt sehe ich nur noch die Natur – und finde sie einfach schön.“

Die 26-Jährige hat pinkfarbene Effektsträhnen im Haar, Piercings in Augenbraue und Unterlippe, den linken Arm von der Schulter bis zum Handrücken tätowiert: ein Baum, eine Uhr mit römischen Ziffern, Strichkodes, Lebenslinien. Bloch hat als Forstwirtin angefangen, hin und wieder hat sie sich gelangweilt. Bäume fällen, Bäume pflanzen, Zäune ziehen – wochenlang standen im Forst die gleichen Aufgaben an.

Dann bot der Nationalpark die Gelegenheit zur Umschulung. Sie wechselte die Seite. Von der Wirtschaft zur Wildnis. Ließ ihr altes Leben im Westerwald zurück und zog in ein Hexenhäuschen. Um im Nirgendwo zu sein, mitten im Nationalpark.

Blochs Job ist es, die Wildnis zu überwachen. Wildnis, darunter versteht man weiträumige, vom Menschen unberührte Natur. Also das Gegenteil der Landschaft, die sich der Mensch mühsam erarbeitet hat und in deren Gefilde er sich wohlfühlt, weil keine Gefahr droht. Die Bundesregierung schreibt in ihrer Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt vor: Bis 2020 sollen sich 2 Prozent des Landes in Deutschland ungestört entwickeln können, Wildnis werden. Das ist eine Fläche, die etwa halb so groß ist wie Thüringen. Der Anteil der Wälder mit natürlicher Entwicklung soll bei 5 Prozent liegen. Ungezähmte Natur also, Kontrollverlust. Der Mensch muss sich zwingen, keinen Finger zu rühren.

Überwachter Kontroll­verlust, kuratiertes Chaos

Das gilt auch für Naturschützer, die es gewohnt sind, die Landschaft zu pflegen, sich gezielt für den Erhalt einer Pflanze oder eines Tiers einzusetzen. Indem sie sich um beste Lebensbedingungen bemühen, Bestände zählen, natürliche Feinde bekämpfen und am Schreibtisch um Ausgleichsflächen feilschen. Die Natur Natur sein lassen – damit tun sich Menschen schwer. In Ale­xandra Blochs Job spiegelt sich dieser Konflikt: Sie muss eingreifen, damit Wildnis entsteht. In Deutschland braucht Wildnis Fachleute.

„Mensch oder ­Totholzzersetzer?“

Hermann Spellmann, Forstwissenschaftler

Als Rangerin hält Bloch die Wege instand, damit Schulklassen weiterhin Ausflüge in die Wildnis machen können. Sie zieht Buchen, zählt Wildkatzen und Käfer. Sie hält die Moore vom Austrocknen ab, baut Staustufen, pflanzt Binsen, um das Wasser zurückzuhalten. Ein vielseitiger, verantwortungsvoller Job. Kontrollverlust sieht anders aus.

Vor allem am Rand der geplanten Wildnis, dort wo sie auf Kulturlandschaften trifft, arbeiten Naturschützer daran, dass die Natur irgendwann einfach mal machen darf. Fichten werden gefällt, die Nadeln aus dem Weg gekehrt, damit Buchen, die vorher mal dagewesen sind, wieder sprießen können. Rehe werden geschossen, damit sie die jungen Triebe nicht abfressen. Initialmanagement nennt sich das. Naturschützer helfen der Wildnis auf die Sprünge und rekonstruieren, was sie für einen Urzustand halten. Kuratiertes Chaos.

„Der Mensch will immer verbessern und optimieren“, sagt Elsa Nickel, Leiterin der Naturschutzabteilung im Bundesumweltministerium. Das führe dazu, dass wir heute nicht mehr wissen, wie sich ein Käferbefall, eine Überschwemmung oder ein Waldbrand überhaupt auf unsere Umwelt auswirken. „Wir müssen lernen, von der Wildnis zu lernen.“

Die Landwirtschaft sei schließlich von Flächen abhängig, mit denen sie ihre Äcker vergleichen kann. Nur so lässt sich erkennen, wie Pflanzen sich an ihre Umwelt anpassen, wie sie mit dem Klimawandel klarkommen. „In der Wildnis können sich die Flechten, Pilze und Insekten entwickeln, die nirgendwo sonst vorkommen. Durch sie können wir die Natur erst begreifen.“

Rund 3,6 Prozent des Bundesgebiets hätten das Potenzial für unberührte Natur, besagt eine Studie des Bundesamtes für Naturschutz. Damit sind Flächen gemeint, die weder Forst noch Landwirtschaft oder Gewerbe für sich beanspruchen.

Nun sind die Bundesländer gefragt, wo genau sie ihre Wildnis wüten lassen wollen und wie groß die Ambitionen sind, eine dürftig finanzierte Richtlinie zu befolgen, die kein Gesetz ist.

Wir brauchen die Wildnis, das ist die Ansage des Bundesamts. Auch oder gerade in dicht besiedelten Kulturlandschaften. Während weltweit pro Jahr an die 5 Millionen Hektar Wald verschwinden, sollten wir anderswo Natur bewahren, auch vor der eigenen Haustür. Unserem Ökosystem zuliebe. Für das Klima, den Hochwasserschutz, die Artenvielfalt. Für unsere Ressourcen, unsere Erholung – und nicht zuletzt für unser Verständnis von Leben.

Was wir unter Wildnis verstehen, ist kulturell geprägt: Das Gegenteil davon, was als Kultur gilt, wird als Wildnis angesehen. In der christlichen und jüdischen Tradition war sie lange ein Schrecken, eine Bedrohung, das Gegenteil vom Paradies, in dem die Menschen gut versorgt und gefahrlos lebten, bis sie vertrieben wurden. Auch im Mittelalter war sie ein Ort des Bösen, der Hexen und Geister.

Je mehr Wildnis der Mensch eroberte, desto positiver sah er sie – Philosophen der Aufklärung, Jean Jacques Rousseau zum Beispiel, erkannten in der Wildnis einen Urzustand, der dem zivilisierten Leben in den Städten moralisch überlegen war. Die Idee des von der Natur entfremdeten und deshalb verkommenen Menschen entstand – ein Grund, warum die Wildnis in der „Neuen Welt“ so attraktiv wirkte. In den 1860er und 1870er Jahren wurden in den USA die ersten Nationalparks gegründet.

In Deutschland übernahmen Naturschützer die Ideen der amerikanischen Vordenker. Der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl forderte 1854 – im selben Jahr, in dem Henry David Thoureau die Bibel der Wilderness-Bewegung, ­„Walden“, schrieb – ein „Recht auf Wildnis.“

All das hinderte den Menschen aber nicht daran, die Natur weiter auszubeuten und für seine Zwecke zu verändern. Jetzt, da Wildnis rar geworden ist, wollen wir sie zurück. Als Ort des Ursprungs, der Freiheit, als Gegenpol zum gezähmten Alltag.

Unser Bild von Wildnis ist positiv besetzt. „Heute versteht ein Drittel der Bevölkerung unter Wildnis so viel wie unberührte, unverbrauchte, echte Natur“, zitiert Elsa Nickel die aktuelle Studie „Naturbewusstsein“ ihres Ministeriums. Der Mehrheit der Befragten gefalle Natur besser, je wilder sie sei.

„Man müsste sich aber erst einmal darauf einigen, was genau wir unter Wildnis verstehen“, kritisiert Hermann Spellmann. Der Forstwissenschaftler glaubt, die Studie „Naturbewusstsein“ habe die Großstädter überrepräsentiert. Also die Naturentfremdeten, die sich an Bäumchen in verwaisten Gleisbetten und Füchsen am Parkrand erfreuen. Die Romantiker, die die Natur einfach mal machen lassen würden. Weil sie ja auch nichts mit ihr zu tun haben. „Die meisten Leute würden jeden Wald als Wildnis bezeichnen. Ich glaube nicht, dass die Masse die wahre Wildnis möchte. Und ich glaube ebenso wenig, dass wir tatsächlich den Raum dafür haben.“

Spellmann hat ein eigenes Gutachten erstellt. Daraus geht hervor: Die 5 Prozent wilder Wald lassen sich vielleicht noch bewältigen; die 2 Prozent wildes Land eher nicht. „Die Seenlandschaften, Moore und Auen könnten eine wichtige Einnahmequelle sein“, sagt Spellmann. Für den Forst, die Fischerei, den Tourismus. Man dürfe nicht einfach davon ausgehen, dass unberührte Natur oberste Priorität genieße. „Es gibt noch ein paar andere Kriterien: den Erhalt des Kulturerbes zum Beispiel. Wir müssen uns überlegen, wer wichtiger ist: der Mensch oder der Totholzzersetzer.“

In Muhl, dem Dorf im Hunsrücker Nationalpark, in dem auch Alexandra Bloch wohnt, würden die meisten Bewohner Spellmann zustimmen. Mehr als 80 Bürgerinnen und Bürger haben sich dort zu einer Initiative gegen die Wildnis zusammengeschlossen. An einigen Straßenlaternen und Heckscheiben kleben ihre Sticker: „Ja zur Natur, nein zum Nationalpark“. Sie treffen sich an Stammtischen, demonstrieren und bauen Infostände auf. Die Argumente: Wenn sich Wildschweine, Waschbären oder Borkenkäfer unkontrolliert durchsetzen, leidet die Vielfalt im Wald. Arbeitsplätze in der Holzindustrie gehen verloren, Immobilien verlieren an Wert. Wildnis ist einfach zu teuer. Und außerdem geht es der Natur doch auch in unserer Kulturlandschaft gut ohne ein offizielles Gebiet, in dem man keinen Halm mehr krümmen darf.

„Wir lieben die Natur und wollen sie schützen“, sagt Gabi Schmitt. „Aber auch gestalten.“ Schmitt lebt schon lange in Muhl, seit mehr als vierzig Jahren arbeiten sie und ihr Mann in der Forstwirtschaft. Bis heute züchtet das Ehepaar sein Vieh, bestellt seine Felder. Mit sorgenvoller Miene sitzt Schmitt – Mitte 50, kurze dunkelblonde Haare – in der Küche ihres Bauern­hauses und schneidet das selbst gebackene Brot an. „Der Wald hat uns ernährt – und wir haben ihn über Jahrzehnte vernünftig behandelt“, sagt sie. „Auf einmal darf kein Baum mehr gefällt werden, nur weil sich einer von ganz oben ein Denkmal setzen will.“

Wer hält uns die Wildnis im Notfall vom Leib?

Der Nationalpark stürze die Forstwirtschaft in den Ruin. „Überall liegen jetzt kaputte Bäume im Gestrüpp und verrotten. Natürlich ist das Geschmackssache, aber ich finde das hässlich.“ Die Muhler haben nichts gegen Wildnis, nur als Nachbarn wollen sie sie nicht haben. Könne man die Natur nicht dort unberührt lassen, wo sie niemanden stört? Steilhänge zum Beispiel oder ohnehin unfruchtbare Böden.

„Die Idee von Wildnis verlangt große, zusammenhängende Flächen“, sagt Harald Egidi. Der Leiter des Hunsrücker Nationalparks musste das schon oft erklären. In den Gemeindehäusern der umliegenden Dörfer wurde er mit allen möglichen Sorgen konfrontiert: Wer hält uns die Wildnis im Notfall vom Leib? Werden Privatbesitzer enteignet? Dürfen die Jäger noch jagen? Darf man noch Beeren pflücken, im Winter Holz für den Ofen hacken? „Die meisten Sorgen waren unbegründet“, sagt Egidi. „Ein Viertel des Natio­nalparks bleibt Pflegezone, in der man weiterhin Pilze und Brennholz sammeln kann. Für die Bevölkerung ändert sich nicht viel.“ Deshalb haben sich die Kommunen für den Nationalpark entschieden.

Alexandra Bloch streift mit ihrem Hund über eine Wiese mit hüfthohem Gras. Schmetterlinge tanzen um die gelben Blüten der Arnika und anderer Wildblumen. „Das sind die ganz normalen Besonderheiten unseres Landes“, erklärt Bloch, holt eine Flasche selbst gebrannten Bärwurzschnaps aus ihrem Rucksack und schenkt ein. Für das Naturverständnis. „Wegen der Weidewirtschaft sieht man diese Besonderheiten heutzutage nur nirgends mehr.“

Die Wiese am Waldrand ist überschaubar. Trotzdem behauptet Bloch, es sei eine der größten noch existierenden Magerwiesen des Landes. Sie müsse darum unbedingt geschützt werden. Auch gegen die Wildnis. Zweimal im Jahr wird sie gemäht. Wenn sich die Kiefern und Fichten zu aufdringlich an sie heranpirschen, werden sie des Feldes verwiesen. Unberührte Natur oder was?

"Früher habe ich wirtschaftlich gedacht. Du siehst einen Baum und weißt: Für so und so viel lässt der sich verkaufen. Jetzt sehe ich nur noch die Natur – und finde sie einfach schön"Alexandra Bloch, Rangerin im Nationalpark Hunsrück-Hochwald

Bloch lässt sich meist Zeit, bevor sie antwortet. Sekundenlang. Die Frau ist nicht aus der Ruhe zu bringen. Das sei eine Fall-zu-Fall-Entscheidung. Hier werden ein paar Bäume gefällt, dort ein paar Rehe geschossen. Und manchmal ganz traditionell Unkraut gejätet. Der Naturschutz sei eben auch der Kulturgeschichte verpflichtet. Er soll nicht nur die Vielfalt der Arten sichern, sondern auch die bestehenden Lebensräume erhalten. Den keltischen Ringwall etwa könne man nicht einfach zuwachsen lassen, das gäbe einen öffentlichen Aufschrei. „Da muss man Kompromisse eingehen. Schließlich leben die Dörfer von ihrer Region.“

„Schön wär’s, wenn wir auch etwas davon hätten“, sagt Gabi Schmitt in ihrer Küche und wischt mit der Hand ein paar Brotkrumen vom Tisch. „Wenn tatsächlich ein paar Gäste angelockt werden.“ Sie schätze Ale­xandra Bloch, ihr Einsatz sei bewundernswert. Aber an den Erfolg des touristischen Faktors Naturkapital glaubt sie nicht.

Harald Egidi, der Leiter des Nationalparks, ist davon überzeugt, dass die Zahl der Gäste in den nächsten zehn Jahren stark ansteigen wird. Der Verzicht auf die Holznutzung solle dadurch bald kompensiert werden. Mehr Tourismus würde der Region guttun. Ein paar Arbeitsplätze schaffen, die Dörfer verjüngen. Knapp drei Viertel der Muhler sind über 50.

Wildnis in Europa

Insgesamt: Höchstens 18 Prozent der Fläche Europas können als Wildnis bezeichnet werden. Etwa 90 Prozent davon liegen in der Taiga und Tundra Nordeuropas, vor allem in Russland.

Österreich: Im Wildnisgebiet Dürrenstein befindet sich der größte Urwald Mitteleuropas. Die 400 Hektar Wald ließ der Bankier Albert Rothschild schon 1875 schützen.

Schweden: Im Naturreservat Sjaunja liegt das größte Moorgebiet Nord- und Westeuropas. 150 Vogelarten brüten dort.

Schweiz: Der Nationalpark ­Engadin ist der älteste Nationalpark in den Alpen. Viele Täler sind für Menschen komplett gesperrt.

Rumänien: Das Donaudelta ist eine der artenreichsten Regionen Europas. Mehr als 5.200 unterschiedliche Pflanzen und Tiere leben dort.

„Momentan gibt es weder Hotels und Restaurants für die Gäste noch einen Bus, der sie in die Wildnis befördert“, sagt Gabi Schmitt.

„Erst die Natur, dann die Touristen“, sagt Alexandra Bloch. Der Park ist gerade mal ein Jahr alt. Es gibt noch ein paar Dinge zu regeln.

Dinge, die im Bayerischen Wald schon mehr als vierzig Jahre Zeit hatten, Normalität zu werden. So lange gibt es dort bereits Wildnis. Bayerische Naturschützer sehen seither vieles mit anderen Augen. Den Borkenkäfer zum Beispiel, diesen Parasiten, der unsere Fichtenwälder in Schadholz verwandelt. Anderswo fahnden Förster panisch nach dem Bohrmehl, das er hinterlässt, in der Hoffnung, ihm durch Fällen und Entrinden rechtzeitig Einhalt zu gebieten.

Auch im Bayerischen Wald hat der Borkenkäfer abgeräumt. Riesige Flächen hat er in karge Steppen verwandelt, aus denen tote Pfeiler ragen, die früher grüne Fichten waren. Eine Katastrophe. Zunächst. Denn die toten Fichten ließen mehr Sonnenlicht auf den Waldboden. Den Auerhühnern gefiel das wohl und sie vermehrten sich. Die Bergbäche wurden wärmer, ihre pH-Werte stiegen, was mehr Plankton wachsen ließ, wodurch sich das Gewicht der Forellen verdoppelte, was wiederum den Fischottern gefiel.

Was gut oder schlecht ist, ist eine Frage der Perspektive. Und oft eine Frage der Zeit.

Wildnis kann befremdlich wirken. Weil sie nicht aussieht wie die Kulturlandschaft, an die wir uns gewöhnt haben. Und schon gar nicht wie die exotische Wildnis auf Fototapeten. In Deutschland wachsen keine von Kolibris umschwärmten Zitrusbäume und von plüschigen Faultieren behangenen Regenwälder. Deutsche Wildnisfans warten auf Wölfe, Luchse, Büffel. Und auf Käfer und die Dynamik, die sie in Gang setzen. Deutsche Wildnis, das sind Halme und Farne, Fadenwürmer und Zecken. Sie könnte uns guttun. Vielleicht nicht, weil sie Profite abwirft. Vielleicht nur, weil wir sie uns leisten können und uns ihre Vielfalt erfüllt.

Nicht nur Hochgebirge, Wälder, Moore, Küsten und Flüsse sollen Wildnis werden, sondern auch Landschaften, die der Bergbau zurückließ, oder ehemalige Truppenübungsplätze, so wie in Jüterbog in Brandenburg. Wo hundert Jahre lang Panzer gerollt waren, sprossen zuerst nur ein paar Flechten und Farne. Dann kamen Kiefern und Birken als kniehohe Pflänzchen aus dem Sand. Heute steht hier ein dichter Wald, so als wäre er schon immer da gewesen. Tiere haben sich in ihm angesiedelt. Hasen, Füchse, Rehe. Im zugewachsenen Luftschutzbunker leben Fledermäuse.

Andreas Hauffe steht auf dem Dach einer Baracke, die von Wurzeln gesprengt und mit Moosen bewachsen ist, und schaut sich um. Wenn der Beauftragte der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg nicht gerade Besucher über das Gelände führt oder Papierkram erledigt, fährt er die Wanderwege auf dem alten Truppenübungsplatz mit seinem Jeep ab. Sucht nach Pfotenspuren. Kontrolliert die Schranken. Wertet Kameras aus, ob sie das Wolfsrudel aufgenommen haben. Hauffe mag, was er sieht. Seit zwanzig Jahren gibt es hier Wildnis.

„Zwei Prozent der Fläche Deutschlands sind machbar“, sagt Hauffe, ein 45-jähriger Mann mit rundem Gesicht und kantiger Brille. An seinem Schlüssel baumelt eine Fledermaus aus Holz. „So viel Fläche ist das nun auch nicht, das kann sich das Land leisten.“ Trotzdem könnte es bis 2020 knapp werden, so träge, wie der Plan ins Rollen kommt. Noch nicht einmal die Hälfte des Ziels sei bislang erreicht.

Öffentliche Eigentümer müssten endlich als gutes Beispiel vorangehen. Dann würden auch Leute mit Privatflächen mitziehen. In Baden-Württemberg steht der Wildnisplan sogar im Koalitionsvertrag. In den anderen Bundesländern wird er größtenteils ignoriert.

„Wir sind es nicht gewohnt, langfristig zu planen“, sagt Hauffe. Die meisten Menschen denken von Woche zu Woche, manche in Jahreszeiten. Politiker denken höchstens noch in Vier- bis Fünfjahresschritten. Und plötzlich soll man entscheiden, was über Jahrhunderte mit einer Landschaft geschehen soll. „Deshalb wurde die Stiftung gegründet. Sie ist für die Ewigkeit angelegt.“

Knapp 13.000 Hektar liegen in ihrer Verantwortung, immerhin fast 2 Prozent der 2-Prozent-Strategie. Hauffe hält ein leicht vergilbtes Foto in der Hand, er hat es vor gut zwanzig Jahren vom selben Aussichtspunkt aus aufgenommen. Es zeigt ein Panorama-Nichts, ­versandetes Brachland. Heute sind viele Dünen von jungen Bäumen bewachsen, die in Grüntönen leuchten.

Es gab auch andere Pläne für das Militärgelände: Gewerbegebiete, Flugplatz, Safaripark. Am Ende hat sich die Wildnis durchgesetzt. Aber auch hier nur mit Abstrichen.

Wanderer dürfen durch die unberührte Natur spazieren. Auf gepflegten Pfaden, wo ein paar Chaoten immer wieder illegale Motocross-Rennen veranstalten. Bedrohte Arten werden auf ausgewiesenen Flächen geschützt, immer wieder darf jemand gegen die Verbuschung ankämpfen.

„In der Kernzone des Geländes greifen wir nicht ein“, sagt Hauffe und leuchtet mit seiner Taschenlampe in einen der Brutkästen hinein, die er ins Geäst gehängt hat. Im Nest liegen zwei grau gesprenkelte Eier. „Der Wiedehopf“, flüstert Hauffe, lächelt kurz und führt seinen Gedanken fort. „In der Kernzone darf auch ein Brand wüten. Das kann schließlich gut für die Dynamik der Natur sein.“

Was gut für die Natur ist, ist manchmal schlecht für die Menschen. Am Rand der Wildnis werden Bäume gefällt, ein Brandschutzring. In manchen Bereichen wird gejagt, damit das Wild nicht die benachbarten Äcker plündert. Eine breite Pufferzone bewahrt die angrenzenden Dörfer davor, dass die Wildnis ihnen zu nah kommt.

In ihren Tiefen darf die Natur wüten. Auch der berüchtigte Borkenkäfer. Er darf die Wälder zerfressen. Und mit ihm unsere Kultur und unser Heimatgefühl. Indem wir uns zum Nichtstun zwingen, kann der Parasit den Lebensraum verändern.

Alexandra Bloch kann kaum erwarten, dass der Borkenkäfer auch in ihren Nationalpark kommt. Was er wohl auslösen wird? Die Rangerin untersucht die Bäume immer wieder auf Parasiten. Ein grassierender Befall lässt noch auf sich warten. „Leider“, sagt Bloch. „Ich würde den Borkenkäfer am liebsten persönlich anschleppen, auf dem Beifahrersitz meines Jeeps“, scherzt sie.

In der Wildnis entwickelt sich Leben so, wie es von der Natur vorgesehen ist: indem anderes Leben vergeht. Etwa indem die Larven eines winzigen Insekts einen ganzen Wald anfallen.

Wer mal in einen toten Stamm hineingreift, kann das spüren. Das massive Holz, das uns Möbel beschert und unsere Dächer trägt, ist von Pilzen, Bakterien und Flechten ganz weich geworden. Wie ein Schwamm, der sich mit Wasser vollgesogen hat. Und mit neuem Leben. Eine Handvoll poröses Totholz wirkt dann wie ein belebter Planet.

Philipp Brandstädter, 32, ist freier Journalist in Berlin. Er würde sich über ein Fleckchen Wildnis vor der Haustür freuen

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