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Kontaktabbruch zur FamilieWenn Eltern verkacken

Auf Social Media berichten immer mehr junge Menschen über ihren totalen Kontaktabbruch zu den Eltern. Ist der Schritt heilsam oder eine Sackgasse?

Es sind vor allem Töchter, die offen über ihren Kontaktabbruch zu ihren Eltern sprechen Foto: Reilika Landen/plainpicture

Wer Terry trifft, könnte denken, dieses Gesicht müsse im Duden neben dem Begriff „Selbstbewusstsein“ abgedruckt sein. Wache Augen, die freundlich, aber bestimmt den Kontakt zum Gegenüber halten, lautes Lachen und Worte sprudeln nur so aus dem Mund, ohne Zögern und Stottern.

Wer denkt, das bedeute, dass es in diesem Leben keinen Struggle gegeben hätte, irrt sich. Mit 34 Jahren hat Terry inzwischen drei Therapien hinter sich und es brauchte viel innere Arbeit, um an den Punkt zu gelangen, an dem Terry heute ist: ganz gut okay mit sich und der Welt zu sein. Warum das alles so schwer war, hatte vor allem mit der Beziehung zum Vater zu tun. Heute hat Terry keinerlei Kontakt mehr zu ihm.

„Die Beziehung zu meinem Vater war jahrelang in einer Art On-off-Zustand, bis ich vor fünf Jahren zum allerletzten Mal Kontakt mit ihm hatte.“ Bis Terry etwa 13 Jahre alt war, sei Papa der große Held gewesen. Sehr charismatisch, gut aussehend, es hatte Wirkung, wenn er einen Raum betrat.“ Wenn Terry über dieses Früher spricht, liegt keine Bitterkeit in der Stimme.

„Meine Kindheit war schön, bis er irgendwann angefangen hat, im Zuge seiner sportlichen Hobbys Steroide zu nehmen. Er wurde hart gewalttätig. Meist meiner Mutter gegenüber, aber irgendwann auch einmal mir gegenüber. Darüber hinaus ging er immer fremd. Nachts kam es öfters zu Verfolgungsjagden zwischen meiner Mutter, mir im Gepäck, und ihm. Da haben sich Szenen abgespielt wie im Film. Drama ohne Ende.“

Während die vermeintliche Stärke und das Selbstbewusstsein des Vaters als Kind noch Sicherheit und Vertrauen in Terry auslösten, begann sich der Schleier der Verklärung mit der Pubertät zu lüften. „Mein Vater log bei allem, selbst wenn die Wahrheit unleugbar war. Als Kind checkt man das natürlich nicht. Mein Vater war jemand, der per se dachte, dass der Mann das Sagen im Haus hat. Frauen können zwar eine Meinung haben, aber eigentlich weiß er eh alles besser. Mein Vater war ein extremer Narzisst, der nur an sich dachte. Ich konnte ihm nicht mehr vertrauen.“

Mit 15 zog Terry von zu Hause aus, brach den Kontakt zum Vater ab. Die Mutter blieb bei dem Mann, der sie misshandelte, körperlich wie emotional.

Tausende Erlebnisberichte auf Social Media

„Going no contact“ ist ein Phänomen, das online seit einiger Zeit auffällig oft besprochen wird. Man findet Tausende Erlebnisberichte, auch in Videoform auf Tiktok, Youtube und Instagram. Für das eigene Wohl harte Grenzen gegenüber den Eltern zu ziehen, auch wenn es in der radikalsten Konsequenz bedeutet, einen totalen Kontaktabbruch zu ihnen vorzunehmen, scheint normal geworden zu sein.

Es gibt allerdings wenig wissenschaftliche Daten darüber, ob totale Kontaktabbrüche zwischen Kindern und Eltern heute häufiger stattfinden als früher. Ein Bericht des New Yorker legt dies anhand anekdotischer Beweise nahe. Es gibt aber auch Stimmen, die meinen, die jüngeren Generationen gingen einfach nur transparenter mit ihren Erfahrungen um. Ob junge Menschen nun häufiger mit ihren Eltern „Schluss machen“ als früher oder nicht – es stellt sich die Frage, ob „Going no contact“ ein wichtiges Werkzeug zur Heilung seelischer Wunden ist oder vielmehr eine Besorgnis erregende Veränderung in unseren Familienbeziehungen.

Sehnsucht nach Verbindung

„In unserer Natur als Menschen tragen wir alle die Sehnsucht in uns, mit anderen Menschen, vor allem unserer Familie, guten Kontakt zu haben, uns mit ihnen verbunden zu fühlen,“ erzählt Michael Kuhn, psychologischer Psychotherapeut in Berlin-Kreuzberg. Er arbeitet häufig mit Menschen zusammen, die problematische Beziehungen zu einem oder beiden Elternteilen aufarbeiten wollen.

Kuhn erstellt unter anderem Gutachten, die benötigt werden, wenn eine Person ihren Nachnamen ändern möchte, meist aufgrund problematischer Beziehungen zu der Person, der sie diesen Namen verdanken. „Wenn wir bewusst diese Verbindung kappen, gibt es meist gute Gründe dafür“, sagt Kuhn.

Aber kann ein Konflikt gelöst werden, indem man den Kontakt abbricht? „Wenn ein Kind den Kontakt zu seinen Eltern abbricht, dann ist das immer ein Versuch des Kindes, sich zu retten. Wenn die Eltern bereit sind, sich infrage zu stellen und ihre Position in dem Konflikt zu hinterfragen, dann kann es eine Lösung geben“, so der Psychotherapeut.

„Nicht Ihre Aufgabe“

Als Terrys erste Therapeutin diese Möglichkeit in den Raum stellte, reagierte Terry ablehnend. „Was denkt die, was sie da sagt, dachte ich mir. Was soll das für ein Rat sein? Ich bin doch hier, um rauszufinden, wie ich diese Beziehung richten kann, nicht wie ich sie beende!“ Doch dann habe die Therapeutin einen Satz gesagt, der Terry innehalten ließ: „Sie versuchen seit 15 Jahren, die Beziehung zu Ihrem Vater zu kitten. Das ist aber nicht Ihre Aufgabe. Sie schaffen das auch nicht, wenn Sie die einzige Person sind, die was dafür tut.“

Irgendwann, Jahre später, begann Terry eine neue Therapie. Als auch diese den Punkt erreichte, an dem der Therapeut vorsichtig zu verstehen gab, ein Kontaktabbruch könne sinnvoll sein, begann sich eine Erkenntnis in Terrys Kopf herauszukristallisieren: „Ich muss das für mich machen, um nicht noch mehr Energie, Nerven, Tränen und Geld für die Therapie zu verlieren, als ich es eh schon habe. Das muss aufhören!“

Und es hörte auf. Dadurch wurde vieles besser. Terry ist eine Person, die weiß, wer sie ist und vielleicht genauso wichtig: wer nicht. „Natürlich habe ich immer noch meine Kopfficks, aber die sind heute ganz andere, als damals, als ich noch Kontakt zu ihm hatte und mich die ganze Zeit ärgern musste, welche Kommentare oder Lügen wohl als Nächstes um die Ecken kommen.“ Trotzdem überkommt Terry manchmal plötzlich eine Traurigkeit darüber, dass es so sein muss, wie es ist. „Weihnachten war richtig schlimm dieses Jahr. Da hat’s mich mal wieder richtig getroffen, wie allein sich diese Erfahrung manchmal anfühlt. Aber grundsätzlich geht’s mir viel besser damit, wie es ist. Ohne ihn.“

Dass es uns so schwerfalle, gewisse Wahrheiten über unsere Eltern zu akzeptieren und daraus Konsequenzen zu ziehen, hänge unter anderem mit Scham zusammen, sagt Michael Kuhn. „In uns ist eine tiefe Dankbarkeit gegenüber unseren Eltern verankert. Wir können nicht anders, als sie zu lieben. Dennoch werfen emotional unreife Eltern jenen Kindern, die Grenzen ziehen, oft vor, undankbar zu sein. Allein der Status des Kindes verpflichtet in ihren Augen zu Gehorsam, zu Unterwerfung.“

Diese Eltern würden jedoch etwas übersehen, meint Kuhn. Wer alles auf die vermeintliche Undankbarkeit des Kindes schiebe, wolle gewisse Dinge im eigenen Verhalten nicht sehen und richte damit schlussendlich noch mehr Zerstörung an. „Die Kinder denken sich dann: Aber das stimmt doch nicht! Ich bin dankbar! Aber ich akzeptiere dieses und jenes Verhalten nicht. Der Kern des Dilemmas solcher Eltern-Kind-Beziehungen ist: Wir lieben unsere Eltern. Aber wir hassen das Verhalten“, so Kuhn. Die Macht, das zu ändern, hätten Kinder leider nicht. Das könnten nur die Eltern.

Auch Terry ist im Laufe der Jahre immer wieder auf Unverständnis gestoßen, wenn der Kontaktabbruch zum Vater Thema wurde. „Die haben große Augen gemacht und dann folgte meistens ein Satz wie: 'Häää, das ist doch dein Vater! Der meint das nicht so!“ oder „Ja, aber damit muss man halt lernen zu leben. Das ist eine andere Generation.“ Terry erzählt das lachend und schüttelt den Kopf. „Aber der ist doch nicht 120 Jahre alt! Man kann immer versuchen, kein Arschloch mehr zu sein. Eltern tragen die Verantwortung dafür, kein Arschloch zu sein. Und wenn man eins ist, kann man nicht erwarten, dass dein Kind einfach okay damit ist.“

Nicht ohne charakterlichen Relaunch

Auf die Frage, ob es eine Möglichkeit gäbe, wieder Kontakt zum Vater, dem einstigen Kindheitshelden, zulassen zu können, antwortet Terry nach kurzem Innehalten und Schmunzeln: „Da müsste schon ein krasser charakterlicher Relaunch her!“ Und fährt wieder ernster fort: „Er ist der Archetyp eines Mannes, den ich komplett ablehne, angefangen bei seinen politischen Ansichten bis hin zu seinen gelebten Werten. Er war gewalttätig, er ist ein heftiger Lügner, ohne Empathie für den Schmerz anderer. Ich weiß nicht, wie wir an einen Punkt kommen sollten, wo ich das alles irgendwie okay finden könnte, nur weil er mein Vater ist.“

Auch wenn es keine verlässlichen wissenschaftlichen Daten gibt, lässt sich eines beim Thema „Going no contact“ feststellen: Es sind vor allem Töchter, die öffentlich über ihre Erfahrungen sprechen und meistens einen Kontaktabbruch zum Vater vorgenommen haben. Ein viel verbreiteter Post dazu lautet folgendermaßen: „Ich glaube, Väter verlieren ein wenig den Verstand, wenn ihnen klar wird, dass ihre Töchter ihnen nicht alles so leicht verzeihen wie ihre Ehefrauen.“

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