Konflikt um Berg-Karabach: Frauen an die Front
Die armenische Regierung mobilisiert Freiwillige für einen militärischen Einsatz gegen Aserbaidschan. Der Konflikt könnte erneut eskalieren.
Die Mehrheit dieser Freiwilligen sind Frauen – es ist ein Experiment für das kleine Land, in dem nur knapp drei Millionen Menschen leben. „Auch die Frauen müssen dienen“, sagt Vova Vardanov, der die Ausbildung der Freiwilligen leitet und die Frauen täglich trainiert. Ein Grund dafür sei die sehr negative Bevölkerungsentwicklung Armeniens.
Vardanov, ein 50-jähriger Veteran des Berg-Karabach-Kriegs, schlägt vor, ähnliche Modelle wie in der Schweiz und Israel auch in Armenien einzuführen. Dann wären Männer und Frauen zum Militärdienst verpflichtet. Doch im Verteidigungsministerium will bislang niemand etwas davon hören. Der zweijährige Wehrdienst ist derzeit nur für Männer Pflicht.
„Wir müssen uns eingestehen, dass Aserbaidschan über eine wesentlich modernere Militärtechnik verfügt als Armenien. Wir haben nur das, was von der verrotteten Sowjetarmee übrig geblieben ist“, sagt Vardanov. Reformen seien dringend notwendig.
Immer wieder Schusswechsel
In Berg-Karabach selbst ist die Lage auch nach dem Waffenstillstand vom Dienstag letzter Woche weiter angespannt. Immer wieder kommt es zu Schießereien. Der Politikwissenschaftler Hrant Melik-Schahnasarjan ist pessimistisch. Er fürchtet einen neuen Ausbruch von Feindseligkeiten, die sogar noch heftiger sein könnten. „Es gibt keinen internationalen Druck auf Präsident Ilham Alijew. Das hat er verstanden und wird weiter versuchen, seine Machtposition in Aserbaidschan durch eine Eskalation zu stärken“, sagt Melik-Schahnasarjan.
Weil der Preise für Öl sinkt, das wichtigste Exportgut Aserbaidschans, herrscht in dem Land eine Wirtschaftskrise. Krieg in Berg-Karabach sei Alijews einziges Mittel, um das Entstehen einer Protestbewegung im eigenen Land zu verhindern, meint Melik-Schahnasarjan. Außerdem könne Alijew so seine korrupten Geschäfte weiter betreiben.
Tevan Poghosjan, Abgeordneter
Für den Politikwissenschaftler ist es nicht ausgeschlossen, dass Baku seinen Angriffsplan mit Moskau koordiniert hat. Er ist deshalb enttäuscht von Russland, das eigentlich ein Partner Armeniens ist. Das Land ist Mitglied in der von Russland dominierten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKH).
Die einzige russische Militärbasis im Südkaukasus befindet sich im armenischen Gjumri, wo etwa 5.000 Soldaten stationiert sind. Zwischen beiden Ländern bestehen bilaterale Verteidigungsverträge. Armenien ist zudem Mitglied in der von Wladimir Putin gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU).
Russische Waffen für Aserbaidschan
Russlands Vizeministerpräsident Dmitri Rogosin, der für die Militärindustrie Russlands zuständig ist, erklärte unlängst in Baku, Russland werde auch weiterhin Waffen an Aserbaidschan liefern. In Armenien wird das stark kritisiert. Russland wolle seinen Einfluss in Aserbaidschan wiederherstellen und tue das auf Kosten Armeniens, sagt Melik-Schahnasarjan. Er spricht davon, dass sich Armenien aus der EAWU zurückzuziehen könnte.
„Auf der Tagesordnung stehen nun militärische Aktivitäten. Und Armenien sollte seine Beziehungen zu Russland überprüfen“, sagt Tevan Poghosjan. Der oppositionelle Abgeordnete im Parlament von Eriwan, der aus Berg-Karabach stammt, ist sicher: Russland riskiert seine Partnerschaft mit Armenien, hat aber keine Chance, Aserbaidschan als Partner wiederzugewinnen.
In der Geschichte des Berg-Karabach-Konflikts war stets die Türkei der wichtigste Verbündete Aserbaidschans. Die Ideologie (eine Nation – zwei Staaten) hat in den beiden turksprachigen Ländern, Aserbaidschan und der Türkei, immer noch eine große Bedeutung.
Die Regierung von Berg-Karabach appelliert unterdessen an die Armenier in aller Welt. In fünf Tagen haben sie 3,5 Millionen Euro überwiesen, damit die Armee von Berg-Karabach moderne Waffen kaufen kann. Auch Tevan Poghosjan setzt auf die weitere Aufrüstung Berg-Karabachs. Er hofft auf Geld aus dem Mutterland Armenien und der weltweiten Diaspora. „Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg“, sagt er.
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