Konflikt mit der Türkei: Erdoğans Ablenkungsmanöver
Wirft Erdogan die BotschafterInnen wirklich raus, gräbt er sich selbst eine Grube. Für die türkische Wirtschaft sieht es schon jetzt katastrophal aus.
A utokraten gehen nicht von alleine. Sie werden gestürzt oder graben sich selbst eine Grube. Die türkische Opposition hofft, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit seinem Frontalangriff auf den Westen, falls er die Ausweisung von zehn BotschafterInnen tatsächlich durchzieht, gerade dabei ist, sich diese berühmte Grube zu graben.
Für Erdoğan sieht es aus mehreren Gründen schlecht aus, hauptsächlich aber, weil es seit Beginn seiner Alleinherrschaft 2018 mit der türkischen Wirtschaft immer weiter abwärts geht. Die Ärmsten haben kaum noch etwas zu essen, und der Mittelstand bangt um seinen Lebensstandard.
Entsprechend sinkt die Popularität des Präsidenten in den Meinungsumfragen immer weiter. Wären jetzt Wahlen, würde er wohl mit Sicherheit verlieren. In Situationen, in denen er in Bedrängnis ist, hat Erdoğan schon immer in den Angriffsmodus geschaltet. In früheren Jahren gegen die innenpolitischen Gegner, und seit die weitgehend ausgeschaltet sind, sucht er den äußeren Feind.
Das war bei seinen Militäroperationen in Syrien, Libyen und Aserbaidschan der Fall und ist auch das Grundmuster bei seinem jetzigen Generalangriff auf den Westen. Bislang war bei seinen politischen oder militärischen Angriffen aber immer noch so etwas wie eine Strategie erkennbar. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Zwar mag es ihm gelingen, mit dem Einprügeln auf den Westen seine treuesten Anhänger noch einmal zu mobilisieren, doch der Preis dafür wäre hoch. Viele in der Türkei fürchten (oder hoffen), zu hoch.
Lange nicht mehr so spannend
Ein ausgeprägter Konflikt mit westlichen Staaten, wechselseitiger Rausschmiss der Botschafter inklusive, würde der türkischen Wirtschaft wohl den Rest geben. Die türkische Lira ist gegenüber dem Euro und dem Dollar schon jetzt im freien Fall. Nach der Ausweisung der BotschafterInnen wäre es wohl ein Fall ins Bodenlose. Die Türkei könnte wichtige Importe von Lebensmitteln über Industrieprodukte bis zu Öl und Gas nicht mehr bezahlen.
Der Konflikt würde Erdoğan letztlich mehr schaden als nutzen. Vollzieht er den Rauswurf in den nächsten Tagen tatsächlich, wäre es nicht nur für die Opposition, sondern wohl auch für einen Teil seiner AnhängerInnen ein Zeichen, dass er seinen politischen Kompass verloren hat.
Kommt jetzt der Anfang vom Ende der Herrschaft Erdoğans über die Türkei? Bislang hat sich noch jeder Abgesang als verfrüht herausgestellt. Vielleicht bläst er die Attacke in den kommenden Tagen einfach wieder ab, vielleicht wird er einen anderen Weg finden, sich aus der Affäre herauszuwinden. Eines aber steht fest: Es war in der Türkei schon lange nicht mehr so spannend wie jetzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr