Konferenz der Exiltibeter: Tibeter drohen leise
In Indien beschließt Tibets Exilregierung, künftig eine härtere Gangart gegenüber China einzuschlagen. Der vom Dalai Lama propagierte "Mittelweg" könnte bald verlassen werden.
Die tibetischen Exilregierung im nordindischen Dharamsala könnte schon bald einen härteren Kurs gegenüber Peking einschlagen. Nach einer sechstägigen Konferenz über den zukünftige Umgang mit China, an der mehr als 500 tibetische Delegierte aus aller Welt teilnahmen, erklärte Parlamentspräsident Karma Choephel: "Viele Teilnehmer haben gesagt, wir sollen den Weg der Mitte weiterverfolgen. Wenn es innerhalb kurzer Zeit keinen Fortschritt gibt, sollten wir andere Optionen erwägen." Einige der Teilnehmer hätten in diesem Zusammenhang die Unabhängigkeit zur Sprache gebracht.
Damit hat die Unabhängigkeitsforderung, für die sich vor allem junge Tibeter seit Jahren einsetzen, Eingang in den politischen Mainstream gefunden - wenn auch vorerst nur in einem Zitat als Drohkulisse. Doch auch moderate Teilnehmer sprachen sich bei dem Treffen, das der Dalai Lama einberufen hatte, für einen entschlosseneren Kurs gegenüber Peking aus. Zwar plädierte die Mehrheit der Teilnehmer für die Fortsetzung des "Mittelweges", also die Forderung nach einer kulturellen Autonomie innerhalb des chinesischen Staates. Künftige Gespräche sollten jedoch an Bedingungen geknüpft werden, etwa die Freilassung politischer Gefangener.
Beobachter berichteten, bei den Gesprächen, die in 15 Gruppen geführt wurden, sei äußerst kontrovers diskutiert worden. Vor allem Kongressteilnehmer, die der Regierung nahestehen, hätten dabei vor den Gefahren einer Unabhängigkeitsforderung gewarnt: Sie befürchteten, die Tibeter könnten in diesem Fall die internationale Unterstützung verlieren.
Der Dalai Lama, der an den Beratungen nicht teilgenommen hatte, bat seine Landsleute anschließend, umsichtig zu handeln. "Wenn wir in den nächsten 20 Jahren nicht vorsichtig, unsere Pläne nicht weise sind, gibt es eine große Gefahr." Es sei seine moralische Verpflichtung, "mich bis zu meinem Tod für die tibetische Sache einzusetzen".
Die herausgehobene Stellung des Dalai Lama hat bei den Beratungen sicher eine entscheidende Rolle gespielt. Denn vielen Tibetern gilt ihr geistliches Oberhaupt als letzte Instanz. Für viele der Delegierten kam es daher nicht in Frage, seine bisherige Politik in Frage zu stellen - auch wenn der Dalai Lama seinen "Mittelweg" erst kürzlich selbst als "gescheitert" bezeichnet hatte.
Der wichtigste Effekt des Treffens dürfte die Wirkung auf die exiltibetische Gemeinschaft selbst sein. In der Frage, wie ihre Regierung mit Peking verfahren solle, waren die Tibeter bis vor kurzem zutiefst gespalten. Für weltweites Aufsehen etwa sorgten die Störungen des olympischen Fackellaufs im Frühjahr. Damals hatte der Dalai Lama seine Landleute gebeten, das Sportereignis nicht für Proteste zu nutzen. Doch dem widersetzten sich vor allem junge Aktivisten, etwa die Anhänger des Tibetischen Jugendkongresses und die "Studenten für ein freies Tibet".
"Das Treffen hat bestätigt, dass die Tibeter den Dalai Lama als ihren alleinigen Anführer sehen", sagte Parlamentspräsident Karma Choephel der taz im Vorfeld der Entscheidung.
Damit die Empfehlungen der Delegierten Eingang in die Regierungspolitik finden, muss nun das Parlament den Abschlussbericht des Treffens annehmen. Sollte dies geschehen, sähe sich Peking in einem Dilemma. Denn dann wäre die Unabhängigkeitsforderung, die China den Exiltibetern seit jeher unterstellt, zumindest als Drohkulisse offiziell auf dem Verhandlungstisch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe