Tsultrim Dorjes Einwurf an dieser Stelle ist überaus wichtig und erhellend, zeigt er doch einmal mehr auf, dass es bei der „Tibet-Frage“ um sehr unterschiedliche Interessen geht. Wir „Herren Blume, Gruschke, Nentwig“, wie er meint, werden uns wohl damit abfinden müssen, nicht mehr den Tag zu erleben, an dem Exiltibeter wie er und viele ihrer Unterstützer die tibetische Geschichte differenzierter wahrnehmen (ohne deswegen ihr Geschichtsbild völlig über den Haufen zu werfen):
– wie den regelmäßig wiederkehrenden Umstand, dass innerhalb Tibets sich bekämpfende tibetische Fraktionen – nicht nur unmittelbar vor der gewaltsamen Besetzung durch die Volksrepublik China, sondern auch schon Jahrhunderte zuvor – immer wieder mit Mächten außerhalb Tibets paktierten (z.B. Mongolen, Mandschuren, Chinas Kommunisten), um innenpolitische Kämpfe gegen ihre eigenen Brüder für sich zu entscheiden und dadurch überhaupt erst vereitelten, dass bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein breiter inner-tibetischer Zusammenhalt entstehen konnte;
– was in den 1930er Jahren ja an mindestens vier Orten Osttibets (Markham, Riwoche, Bathang, Kandze) zu Autonomiebewegungen führte, die mit dem Ziel antraten, sich von der Lhasa-Regierung zu emanzipieren;
– dass infolgedessen die dem Dalai Lama aus religiös-spirituellen und inzwischen auch Identität stiftenden Gründen erbotene Loyalität keineswegs sofort von jedem Tibeter auf jedwede andere zentraltibetische (will heißen: in Lhasa sitzende) Regierung übertragen würde;
– und dem weiteren Umstand, dass zudem gravierende „Entfremdungserscheinungen“ zwischen (politisch aktiven) Exiltibetern und (insbesondere nicht aufständischen) Tibetern in Tibet selbst aufscheinen.
All dies (und vieles mehr, was hier nicht alles aufgeführt werden kann) macht schnell deutlich, dass selbst nach einer schnell und reibungslos vonstatten gehenden Unabhängigkeit, so sie denn möglich wäre, die entstehende tibetische Regierung erst einmal mit dem Umstand zu kämpfen hätte, „ihr Land und ihr Volk“ in vollem Umfang (neu) kennen zu lernen, insbesondere da dessen Probleme bis dahin allein über die Formel „die Chinesen sind an allem Schuld“ definiert wurden.
Und genau, weil diese Vorgehensweise die Probleme nicht zu lösen verspricht, sehe ich als – momentan – einzig gangbaren Weg, das, was ist, zu verbessern. Es ist Tsultrim Dorjes Interpretation, dass eine solche Haltung meinerseits etwas über meine Ansicht darüber, ob, wann, wie oder wie nicht Tibet unabhängig war, aussage. Dies ist mitnichten so. Ich äußere mich hierzu auch weiterhin nicht, weil ich nicht glaube, dass es der Verbesserung der Lebenssituation in Tibet nicht nütze. Das liegt natürlich auch daran, dass in meinen Augen die Verbesserung des Wohls der 98 % Tibeter, die in Tibet leben, zunächst einmal wichtiger ist als die Wünsche der kaum 2 % Tibeter, die im Exil leben. Auch das Anliegen der Letzteren kann ich nachvollziehen, doch ich bin mir nicht sicher, ob dies umgekehrt ebenfalls selbstverständlich ist.
Streiten Sie ruhig weiter mit China um die Geschichte - in Kategorien, die wir Europäer „friedlich“ über die Welt gebracht haben und sich nun alle zu eigen gemacht haben. Wir „Herren Blume, Gruschke, Nentwig“ bemühen uns um Lösungsmöglichkeiten für praktische Probleme, die wir vor Ort als solche (zu) erkennen (meinen). Ich sage nicht, dass wir damit die Weisheit mit Löffeln gegessen haben – doch erscheint mir der bisher von den Exiltibetern und ihren Unterstützern gegangene Weg wie ein zwar gut ausgetretener, aber eben doch im Kreise und nicht auf ein erreichbares Ziel hinführender Weg.
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