Kommunikation vor der Europawahl: Lernt unsere Sprache
Nicht mal 20 Prozent der Erstwähler*innen fühlen sich gut informiert. Das liegt nicht an ihnen. Die Politik muss besser mit Menschen reden.
M anche Gesetze und Vorhaben haben Namen wie Utopien: Das „Gute-Kita-Gesetz“ etwa oder das „Starke-Familie-Gesetz“. Dieser Kommunikationstrick ist in Deutschland schon seit Längerem en vogue: Er verspricht eine Welt, ohne zu erklären, wie diese entstehen soll. Und er ist noch dazu nicht die Lösung für das eigentliche Problem: generell schlechte Kommunikation über politische Prozesse.
Dieses Problem zeigt sich auf Europaebene in einer Umfrage des F&P Marketinginstituts im Auftrag von Greenpeace. Laut der fühlen sich nur 18 Prozent der Erstwähler*innen über die Aufgaben des Europaparlaments gut oder sehr gut informiert. Das macht stutzig, sollten Wahlen doch im Schulunterricht thematisiert werden. Zudem gibt es ja auch noch digitale Informationsangebote wie den Wahl-O-Mat.
Haben die Jugendlichen also im Unterricht geschlafen? Sind sie schlicht lesefaul und politikverdrossen? Nein. 67 Prozent der Erstwähler*innen geben an, bei den anstehenden EU-Wahlen am 9. Juni abstimmen zu wollen. Das zeugt von Politisierung und einem Bewusstsein für Europa. Doch obwohl die EU mit Austauschprogrammen, Interrail-Reisen, gemeinsamer Währung präsent ist im Leben ihrer Bürger*innen: Wie das Ganze auf parlamentarisch-demokratischer Ebene funktioniert, ist offensichtlich weniger bekannt.
Der parteilose EU-Politiker Nico Semsrott sagt in einem taz-Interview, dass niemand (auch er selbst) das System der europäischen Gesetzgebung vollständig verstehe, es gebe eine extrem hohe Anzahl an Spielern und Chaoselemente. Wenn Semsrott nach einer knappen Legislaturperiode im EU-Parlament immer noch überrascht ist, wie kompliziert die EU-Politik abläuft, ist das alarmierend. Denn wie sollen es denn dann die Bürger*innen verstehen?
Alles zu komplex
„Chaoselemente“ und viele Player – das klingt nach Komplexitätsexplosion. Komplexität ist hinsichtlich wichtiger Gesetzgebung angebracht, keine Frage. Die europäische Politik verfehlt nur leider das Grundprinzip der Kommunikation. Es wird viel getextet, verkündet und transkribiert, doch die Botschaft kommt nicht an.
Was dem Europäischen Parlament fehlt, ist Komplexitätsreduktion. Dieser Begriff ist wesentlich von dem deutschen Soziologen Niklas Luhmann entwickelt worden und bezeichnet die Voraussetzung gelingender Kommunikation. Komplexitätsreduktion ist alltäglich erfahrbar, auch wenn wir sie oft nicht immer bewusst mitbekommen.
Nehmen wir die Klimapolitik als Beispiel. Wenn neue Maßnahmen entwickelt werden, wird nicht jedes Mal im Detail erklärt, wie Klimaschäden auf chemischer Ebene ablaufen. Das würde uns vom Wichtigen ablenken: der Maßnahme an sich. Bei der Gesetzgebung handelt es sich im Wesentlichen um die Fragen „Was wird getan?“ und „Was soll erreicht werden?“. Erst diese Reduktion ermöglicht (Anschluss-)Kommunikation und verhindert Reizüberflutung. So abgedroschen es klingt: Die Politik muss von der Bevölkerung verstanden werden.
Es braucht neue Formate
Was ist nun zu tun? Das Europäische Parlament müsste seine öffentliche Kommunikation selbstkritisch hinterfragen und an neuen Formaten arbeiten. Die EU ist ein Präzedenzfall: Sie vereint als demokratisches Parlament eine große Bandbreite von Sprachen und heterogenen Geschichten Europas.
Tatsächlich sprechen wir nicht immer die gleiche Sprache. Hier geht es nicht nur darum, Französisch, Polnisch oder Schwedisch zu sprechen. Die EU besteht nicht nur aus Ländern, sondern aus Unternehmen, NGOs, Gewerkschaften, Vereinen und vor allem: Bürger*innen. Nur wenige von ihnen sind Politikexpert*innen. Um diese Menschen zu erreichen, muss die Politik Komplexitätsreduktion liefern.
Wenn am 9. Juni die Stimmen abgegeben werden, steht viel auf dem Spiel. Wollen wir bei europäischen Entscheidungen in Zukunft mitreden, müssen die EU-Politiker*innen lernen, in diesen unseren Sprachen mit uns zu sprechen. Erst dann ergibt der Stimmgebrauch Sinn.
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