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KommetarGrobmotorischer Fehlgriff

Ver.dis aufruf zum Arbeiteraufstand am 17. Juni sorgt für Verwirrung. DerGewerkschaft fehlt das Fingerspitzengefühl für die DDR-Geschichte.

Unverständnis über Streikaufruf

Der Aufruf von Ver.di zum "Arbeiteraufstand" am 17. Juni sorgt für Empörung. Die Anspielung auf den 17. Juni 1953 in der DDR sei eine "grenzenlose Anmaßung" und "absolut lächerlich", sagte am Freitag Stefan Wolle, Projektleiter im Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität, der taz. Man könne ein Ereignis wie den Aufstand in der DDR nicht derartig aus dem historischen Zusammenhang reißen. Auch innerhalb des Gewerkschaftsbündnisses, das die Landesbeschäftigten im Tarifstreit des öffentlichen Dienstes vertritt, gibt es Kritik an dem Aufruf. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft teilte mit: Sie hätten den Begriff "Arbeiteraufstand" nicht gewählt und hielten ihn ebenfalls für unangemessen. Die Gewerkschaften wollen den Druck auf den Senat erhöhen und rufen die Landesbeschäftigten deshalb berufsübergreifend zu Streiks auf, erst im Süden Berlins, später im Norden. Am 17. Juni sollen dann alle Arbeiterinnen außer Polizisten und Feuerwehrleuten in den Ausstand treten.

Wenn die Geschichte bemüht wird, um politische Forderungen zu untermauern, erregt das häufig die Gemüter. So auch jetzt, wenn die Gewerkschaft Ver.di ihren Streik im öffentlichen Dienst am 17. Juni in Anspielung auf 1953 als "Arbeiteraufstand" betitelt. Natürlich ist es legitim, einen Streik heute mit der Revolte von damals zu vergleichen. Nur gleichsetzen sollte man die beiden Ereignisse nicht. Genau das tut Ver.di aber. Die Gewerkschaft hat damit bewiesen, dass ihr das Fingerspitzengefühl für die DDR-Geschichte abgeht. Mehr noch: Sie hat sich einen grobmotorischen Fehlgriff geleistet.

Sicher, sowohl beim Arbeiteraufstand als auch beim Tarifstreit ging und geht es irgendwie um höhere Anforderungen des Staates und Lohnverluste der Beschäftigten. Hier endet aber auch schon die Parallele. Die schlechte wirtschaftliche Versorgung der DDR-Bevölkerung, der Schlingerkurs der Regierung, die dann auch noch die Normen erhöhte, der Mangel an Mitsprachemöglichkeiten in der Diktatur, die Abwanderung in den Westen - all das haben die Leute von Ver.di entweder nicht gewusst, oder sie ignorierten es schlicht. Was genauso peinlich ist.

Wollte die Gewerkschaft tatsächlich dem Vorbild von 1953 entsprechen, hätte sie einiges vor: Sie müsste Hunderttausende mobilisieren. Ein ehrgeiziges Ziel, sah man doch bis jetzt wenig vom Streik im öffentlichen Dienst. Und überhaupt: Wo will Ver.di so kurzfristig eine sowjetische Besatzungsmacht herbekommen?

Im Ernst: Der 17. Juni 1953 war nicht nur der Tag der Arbeiterproteste. Er war auch ein Volksaufstand für Freiheit und Demokratie. Damit hat der Tarifstreit im öffentlichen Dienst wahrlich nichts zu tun. Zum Glück: Schließlich endete der 17. Juni in der DDR mit Toten.

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