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KommentarVerspätete Genugtuung

■ Gestern hat der Bundestag die NS-Unrechtsurteile aufgehoben

Gestern hat der Bundestag die Aufhebung der NS-Unrechtsurteile beschlossen, ebenso die Entscheidungen über Zwangssterilisationen. Daß es dazu 53 Jahre brauchte, zeigt, was die Mehrheit der Bürger und ihre parlamentarischen Vertreter über Jahrzehnte unter der Wahrung des Rechtsfriedens verstanden. Sie sahen keine Veranlassung, sich nach dem Ende des NS-Regimes für Minderheiten einzusetzen. Der Rechtsfrieden, der ein Frieden mit der Mehrheit war, wurde gewahrt, indem man tatenlos blieb.

Erst eine neue Generation von Parlamentariern schaffte den Durchbruch, gestützt auf Debatten, die in der Gesellschaft vorangegangen waren. Insofern ist die Entscheidung des Bundestags zu begrüßen. Daß sie zu spät kommt, daß die meisten Opfer tot sind und nur noch ihren Angehörigen Genugtuung verschaffen wird, ist die zynische Konsequenz der Verdrängungsleistung.

Was gestern entschieden wurde, ist ein symbolischer Akt. Aber auch dieser entfaltet seine Wirkung. Man könnte sich also freuen, wenn nicht die Art und Weise, wie der Beschluß zustande kam, die Entscheidung trüben würde. So blieb jener Passus bestehen, der die pauschale Aufhebung von Urteilen gegen Deserteure nicht zuläßt. Im Mai 1997 hatte der Bundestag auf Druck konservativer Unions-Abgeordneter eine Entschließung verabschiedet, in der zwar die Urteile der Wehrmachtsjustiz wegen Desertion für unrecht erklärt wurden. Doch das gilt nur dann, „wenn bei Anlegung dieser Maßstäbe die der Verurteilung zugrunde liegende Handlung auch heute unrecht wäre“. Konkret: Wer sich damals zum Beispiel durch Anwendung von Gewalt von der Truppe entfernte, gilt nach wie vor als Deserteur.

Der Gesetzestext spiegelt den Konflikt zweier Rechtsschulen wider: den zwischen Maximalisten, die den Ausbruch aus der einem verbrecherischen Regime dienenden Wehrmacht für straffrei halten, und den Rechtspositivisten, die auch unter einem Unrechtsregime nicht jede Straftat für unrecht halten. Die noch lebenden Deserteure gelten im Zweifelsfall auch künftig als jene zwielichtigen Typen, für die die Mehrheitsgesellschaft sie immer gehalten hat. Weil es keine pauschale Aufhebung der gegen sie erlassenen Urteile gibt, werden bestimmte Kreise hierzulande sie weiterhin pauschal diffamieren. Severin Weiland

Bericht Seite 6

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