Kommentar: Justizministerin toleriert Null-Toleranz ■ Däubler-Gmelin scheut Rechtsreform
Deutschlands Knäste sind überfüllt. In drei Jahren stieg die Zahl der Inhaftierten um rund 30 Prozent – trotz rückläufiger Kriminalitätsrate. Sind die ausländischen Straftäter schuld? Natürlich nicht. Aber genau dieser Eindruck wird sich in den Köpfen vieler Bürger festsetzen, wenn Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin nun fordert: Ausländer sollen ihre Strafe im Heimatland absitzen. Daran ändert wenig, wenn die Sozialdemokratin gleichzeitig versichert, das sei alles andere als eine Ausländer-raus-Politik. Kriminalität und Ausländer – das Begriffspaar führt in Deutschland ein Eigenleben und entzieht sich weitgehend einem rationalen Diskurs. Für Volksvertreter ist es eine Frage des politischen Überlebens, die tief verwurzelten Ängste der Bürger, seien sie auch noch so irrational, „ernst zu nehmen“. Die Politik muss Antworten auf diese Ängste liefern, nicht nur auf die Fakten.
Die Justizministerin mag ein aufrechter Mensch sein. Sie ist gleichzeitig Machtpolitikerin genug, um zu wissen, welche Wirkungen ihre Worte haben: „Ausländerkriminalität, die tut was!“ Vor allem in ihrem Selbstwertgefühl erschütterte Kleinbürger mit Angst vor der Zukunft werden es der SPD bei der nächsten Wahl zu danken wissen. Mehr Mut würde es erfordern, den Wählern zu sagen: Offene Grenzen und eine in Bewegung geratene Welt bringen natürlich auch Kriminalität von Nichtdeutschen mit sich. Aber für die Überfüllung der Knäste sind sie nicht verantwortlich, sondern einzig euer Begehr nach gnadenloser Rache und Bestrafung.
Der Gefangenenboom ist vor allem einer Bevölkerung geschuldet, die angeblich zu lasche Richter an den Pranger stellt, mehr und mehr auf Null-Toleranz-Strategien setzt und Resozialisierung für einen Quatsch aus den fernen Siebzigerjahren hält. Die Folge: Die Strafhärte der Richter nimmt zu, die Bereitschaft zur vorzeitigen Haftentlassung ab, Alternativen zur Inhaftierung werden denunziert.
Es ehrt die Ministerin, diesen Kontext nicht ganz zu vergessen. Dennoch bleiben die von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen, die Zahl der Inhaftierten zu reduzieren, hinter den Möglichkeiten zurück. Entkriminalisierung von Bagatelldelikten wie Kaufhausdiebstahl und Drogenkonsum, daran wagt sich eine Regierung, die den Vorwurf des Weicheis fürchtet, leider nicht heran. Eberhard Seidel
Bericht Seite 6
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