Kommentar zur Regierungsbildung in Italien: Der römische Albtraum
Der wahre Albtraum steht Italien womöglich erst noch bevor. Berlusconi nämlich hat realistische Chancen, die nächsten Wahlen zu gewinnen
S ie scheinen in ferner Vergangenheit zu liegen, die Tage im November 2011, als Silvio Berlusconi unter Schimpf und Schande aus der Regierung schied, als tausende Menschen mit Johlen und Pfeifkonzerten seinen Abschied feierten. Endgültig erledigt schien er damals, und seine Partei stürzte auf unter 10 Prozent ab.
Doch jetzt ist Berlusconi wieder da. Er darf nicht nur für sich reklamieren, den als Chef der Partito Democratico (PD) zurückgetretenen Pierluigi Bersani erledigt und damit binnen den vergangenen knapp 20 Jahren fast das Dutzend der gegen ihn schmachvoll untergegangenen Anführer der Linken vollgemacht zu haben.
Beanspruchen darf Berlusconi vor allem, seine Wunschlösung – die Koalition mit der PD – erreicht zu haben. Staatspräsident Napolitano ebenso wie die meisten Zeitungen Italiens reden diese Lösung jetzt schön: Das sei halt eine große Koalition, wie sie anderswo ja gerade in Krisenzeiten doch auch gang und gäbe sei.
Michael Braun ist Korrespondent der taz in Italien.
Das Gegenteil ist wahr: Mit Berlusconis Rückkehr ins Zentrum der Macht wird die Anomalie der italienischen Demokratie zementiert, die Anomalie einer Demokratie, deren stärkster Politiker weiterhin nicht nur seine Interessenkonflikte mit sich herumschleppt, sondern der dazu noch einen ganzen Strauß von Prozessen – wegen Steuerhinterziehung, wegen Förderung der Prostitution Minderjähriger und einigem mehr – am Hals hat.
Und der wahre Albtraum steht Italien womöglich erst noch bevor. Berlusconi nämlich hat realistische Chancen, nach einem Scheitern der Regierung Letta – das er selbst jederzeit dekretieren kann – die nächsten Wahlen zu gewinnen und sich dann als Nachfolger Giorgio Napolitanos zum Staatspräsidenten küren zu lassen. Die Berlusconisierung des Landes wäre damit perfekt – ebenso wie der Untergang der italienischen Linken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen