Kommentar zum ADFC-Fahrradklimatest: Gestiegene Erwartungen
Berlin bekommt schlechte Noten beim ADFC-Fahrradklimatest. Ist es wirklich so schlimm, das Radeln in Berlin?
Scheißradeln! Sieht man sich die Ergebnisse des aktuellen „Fahrradklimatests“ an, die der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) am Dienstag veröffentlichte, scheint es für die BerlinerInnen eine wirklich leidige Angelegenheit zu sein, dieses Herumgestrampel auf klapprigen Metallrahmen. Mit einer Durchschnitts(schul)note von 4,27 landete die Hauptstadt im Ranking der deutschen Städte mit mehr als 500.000 EinwohnerInnen auf Platz 12 von 14, unter denen mit mehr als 200.000 Einwohnern kam sie auf Platz 32 von 39.
Sieht man genauer in die Statistik, tun sich Abgründe auf: Radfahren macht mehr Stress als Spaß, fanden die meisten der rund 4.500 TeilnehmerInnen der Untersuchung (Note 4,1), man fühlt sich nicht sicher (Note 4,8), die Straßenoberflächen sind mies (Note 4,9), es gibt schwere Konflikte mit dem Autoverkehr (Note 5,1), und am Ende wird das Ding auch noch geklaut (Note 5,2). Okay, bei der Frage, ob es genug Leihfahrräder gebe, erteilen die BerlinerInnen ihrer Stadt eine 2,2. Nur, was haben die Normalo-RadlerInnen davon?
Na gut, vom Durchschnitt der 500.000-plus-Städte (4,1) ist man an der Spree nicht so weit entfernt. Und ein Lichtblick scheint zu sein, dass die vor vielen Jahren einmal mit einem Anflug von Größenwahn als „Fahrradstadt“ gelabelte Metropole jetzt wenigstens Platz 1 der „Aufholer“ errungen hat.
Dass nicht alles von Übel ist, findet auch Beate Mücke vom ADFC-Landesvorstand: „Politisch hat sich Berlin auf den Weg zu einer fahrradfreundlicheren Stadt gemacht“, kommentiert sie das Ergebnis. Aber: „Auf der Straße war davon in den letzten zwei Jahren noch wenig zu sehen.“
Das ist das eine. Das andere ist das alte Paradox, dass Bewertungen manchmal in den Keller gehen, nicht weil das Bewertete schlechter geworden ist, sondern weil Sensibilität und Erwartungen gestiegen sind. Etwas Ähnliches passiert bei Kriminalstatistiken, wenn es aufgrund eines veränderten Anzeigeverhaltens nur so aussieht, als würde die Zahl der Taten zunehmen.
Beim Radverkehr in Berlin ist es schlicht und einfach so, dass die meisten begriffen haben, welches Potenzial in diesem (ihrem) Verkehrsmittel steckt. Wenn sich dann aber auf der Straße kaum etwas tut – ob aufgrund der Trägheit politischer und planerischer Prozesse oder mangels Entschlossenheit der Verantwortlichen, das können wir an dieser Stelle nicht abschließend klären –, erscheint einem die Realität schon deshalb viel trauriger.
Denn in Wirklichkeit macht Rad fahren in Berlin ja doch Spaß. Viel mehr jedenfalls, als es die selbst erteilten schlechten Noten erscheinen lassen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Nichtwähler*innen
Ohne Stimme