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Kommentar von Martin Kaul zu den BraunkohleprotestenTage der offenen Tür

Keiner will sich für eine Ideologie von gestern die Finger schmutzig machen

Dieser Polizeieinsatz hat Maßstäbe gesetzt. Man muss sich das vorstellen: Da marschieren Hunderte Kohlegegner völlig ungehindert in einen Braunkohletagebau, tanzen zwei Tage lang auf Schaufelradbaggern und schneiden ein Energiekraftwerk von der Versorgung ab, bis dieses die Leistung empfindlich drosseln muss. Polizei und Justiz? Können darin weder Hausfriedensbruch noch Nötigung erkennen. Das ist, kann man sagen, durchaus lässig gelaufen.

Bei den Anti-Kohle-Protesten, die am Pfingstwochenende in der Lausitz stattfanden, konnten es selbst die rund 3.000 Klimaaktivisten kaum fassen. Sie waren aus ganz Europa gekommen, um zivilen Ungehorsam zu verüben. Doch die Staatsgewalt legalisierte im Handumdrehen eine ganze Bewegung. So einfach kann das mit der Rechtsauslegung also sein. Das zeigt, wie politisch Polizeieinsatztaktiken gelesen werden müssen.

Dass die Staatsgewalt so historisch defensiv vorging, ist vor dem Hintergrund der politischen Lage verständlich. Die Energiewende ist beschlossen, die Kohle ein Auslaufmodell, und der Vattenfall-Konzern, der der Lausitz bald den Rücken kehrt, hat sich in der Region unbeliebt gemacht. Kurz: Dass die rot-rote Landesregierung in Brandenburg den schwedischen Konzern so allein dastehen lässt, vermittelt eine klare Botschaft: Es ist nicht mehr selbstverständlich, sich für eine Ideologie von gestern noch die Finger schmutzig zu machen.

Die Entscheidung, bei Protesten, die ebenfalls als historisch gelten dürfen, einen Polizeieinsatz durchzuführen, der über weite Teile den Namen gar nicht verdient, ist außerdem mutig. Erstmals war in der Lausitz zu beobachten, dass es eine Einsatzleitung wagte, den liberalen Traum einer offenen Bürgergesellschaft und einer zurückhaltenden Polizei radikal umzusetzen. Das ging nicht nur politisch auf, sondern auch einsatztaktisch: Bilder von brennenden Barrikaden oder Scharmützeln zwischen Demonstranten und Beamten blieben aus – auch weil gar keine Gegner in Sicht waren. Erst als die Besetzer auf das innere Kraftwerksgelände vordrangen, griffen die Beamten zu. Ja, was denn sonst?

Und so hat die Brandenburger Polizei an diesem Wochenende ein neues Einsatzmodell in Deutschland eingeführt. Als Diskussionsgrundlage für die nächste Innenministerkonferenz taugt es allemal.

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