Kommentar von Christine Longin zu den Rentenprotesten in Frankreich: Wut und Misstrauen
Die nächsten Präsidentschaftswahlen in Frankreich sind erst in zweieinhalb Jahren, doch das politische Schicksal von Emmanuel Macron dürfte sich in den kommenden zweieinhalb Wochen entscheiden. Der Staatschef will mit seiner Rentenreform beweisen, dass er mehr Mut und mehr Durchsetzungskraft hat als alle seine Vorgänger. Wenn er die „Mutter aller Reformen“ gegen den Protest der Straße durchsetzt, hat er die Weichen für seine Wiederwahl gestellt. So zumindest das Kalkül.
Keine Frage: Die 42 Renten-Sonderregelungen abzuschaffen, ist nüchtern betrachtet eine gute Idee. Es ist nicht einzusehen, warum ein Busfahrer der Pariser Verkehrsbetriebe früher in Rente gehen und auch noch mehr Geld bekommen soll als sein Kollege in Bordeaux. Das alte System ist undurchsichtig und unverständlich. Die Reform als solche wird deshalb von einer Mehrheit begrüßt.
Doch die Franzosen trauen Macron nicht zu, ein neues, gerechteres System zu schaffen. Im Gegenteil: Sie fürchten, hinterher nur weniger Geld zu haben. Sie misstrauen dem Mann, der in der ersten Hälfte seiner Amtszeit die soziale Ungleichheit noch verstärkt hat. Sicher haben seine Reformen den Unternehmen gutgetan. Doch die Mehrzahl der Franzosen profitierte nicht davon.
Im Gegenteil: 400.000 Menschen rutschten 2018 unter die Armutsgrenze. Das Prekäre ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Es betrifft Anwälte ebenso wie Studenten. Und die haben nicht vergessen, dass Macron gleich zu Beginn seiner Amtszeit die Wohnungsbeihilfen kürzte und die Vermögensteuer abschaffte. Das Etikett des „Präsidenten der Reichen“ wird für immer an ihm haften bleiben. Ebenso wie die Farbe Gelb, die mit seiner Präsidentschaft verbunden ist, auch wenn die Demonstranten in den neongelben Warnwesten inzwischen von den Straßen verschwunden sind. Die Gelbwesten führten Macron drastisch vor Augen, dass es noch ein anderes Frankreich gibt, das bei seiner Politik nur verliert.
Dieses andere Frankreich streikt nun. Es sind nicht nur die Eisenbahner, die ihr eigenes Rentensystem behalten wollen. Längst hat der Protest all jene erreicht, die mit der Sozialpolitik Macrons unzufrieden sind. Und das sind viele. Krankenschwestern, Lehrer, Studentinnen und Polizisten demonstrieren seit Monaten, weil sie nicht mehr genug zum Leben haben. 52 Prozent der französischen Haushalte haben laut OECD Probleme, mit ihrem Geld bis zum Monatsende hinzukommen. Die Rente ist nur die Spitze des Eisbergs.
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