Kommentar Wirtschaftswachstum: Deftige Schelte der OECD
Die Ökonomen des Zusammenschlusses der reichen Staaten beklagen ein zu geringes Wachstum. So könne die Armut nicht bekämpft werden.
E in Wort der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) in Paris hat Gewicht. Wenn die Ökonomen des Zusammenschlusses der reichen westlichen Staaten zu geringes Wachstum beklagen, um die Armut zu besiegen, ist dies eine deftige Schelte für Regierungen in Berlin, Brüssel und Washington sowie für die Zentralbanker in Frankfurt.
Über konjunkturelle Zyklen und Krisen hinweg sinken die Wachstumsraten in den „alten“ Industriestaaten. In den 1950er Jahren betrug das preisbereinigte Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik durchschnittlich 8,2 Prozent - pro Jahr. In den 1960er Jahren war es auf 4,4 Prozent geschrumpft, in den folgenden Dekaden sank es von 2,9 auf 1,7 Prozent. Und seit der Jahrtausendwende fiel das Wachstum, selbst wenn man das Krisentief beiseite lässt, auf magere 1,2 Prozent.
Nun ist diese Neigung zur Stagnation auch dem immer größer gewordenen Sockel geschuldet und insofern Mathematik. Der entwickelte Kapitalismus verfestigt damit jedoch ein soziales Grundproblem: Technische Entwicklungen, Rationalisierungsstrategien in den Betrieben und die Exportorientierung der Konzerne sorgen unter den gegebenen Bedingungen dafür, dass ein langfristiges Wirtschaftswachstum von etwa zwei Prozent notwendig wäre, um die Zahl ordentlich bezahlter Arbeitsplätze auch nur zu erhalten. Davon sind aber fast alle OECD-Staaten weit entfernt.
In den meisten Ländern investieren die Unternehmen deutlich weniger als vor der Krise. Kapitalflucht in aufstrebende Schwellenländer, lukrativere Renditen an den Börsen und mangelhafte Ausbildung junger Menschen verhindern ein sozial und ökologisch verträgliches Wachstum.
Der französische Ökonom Thomas Piketty macht zurzeit Furore mit der These, dass kapitalistische Systeme grundsätzlich zu wachsender Ungleichheit neigen. Pikettys Forschungen wurden gerade von der OECD bestätigt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles