Kommentar Wahl in Großbritannien: Brexit war gestern
Über Europa herrscht Einigkeit. Deshalb rücken im Wahlkampf andere Themen in den Blickpunkt. Für Theresa May wird das zum Problem.
M it dem Anschlag von Manchester ist der Terror in die britische Politik zurückgekehrt. Plötzlich reden alle nur noch über die innere Sicherheit und den hausgemachten Islamismus. Es sind vertraute Fragen: Wenn der Täter polizei- und geheimdienstbekannt war, hätte man den Anschlag verhindern können? Gibt es Defizite bei Ausstattung und Kompetenzen von Polizei und Geheimdiensten? Und hat es irgendetwas mit der britischen Außenpolitik zu tun, vor allem in Libyen?
Großbritanniens vorgezogene Parlamentswahlen am 8. Juni sind keine zwei Wochen mehr entfernt, und solche Fragen sind als Wahlkampfthemen schwierig. Zu einhellig ist der nationale Konsens gegen den Terror. Für die konservative Premierministerin und langjährige Innenministerin Theresa May ist eine Terrordebatte ein Heimspiel – und für Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn, einen langjährigen Sympathisanten der IRA, ist es seine Achillesferse.
Um so paradoxer ist es, dass in dieser Woche etwas Seltsames passiert: Mays uneinholbar geglaubter Vorsprung in den Umfragen schmilzt, Labour holt stetig auf. Wie kommt das?
Als May direkt nach Ostern die vorgezogenen Neuwahlen ansetzte, ging es ihr vor allem um eines: ihre schmale Mehrheit im Parlament auszubauen, um bei den anstehenden Brexit-Verhandlungen mit der EU gegen Überraschungen und Abweichler in den eigenen Reihen gefeit zu sein. Die tiefe Krise der nach links gewendeten Labour-Opposition unter Jeremy Corbyn, die neue Schwäche der ausschließlich auf ein zweites Unabhängigkeitsreferendum fixierten schottischen Nationalisten, das Verschwinden der dank Brexit überflüssig gewordenen Anti-EU-Partei Ukip – all dies war die perfekte Vorlage für einen hohen konservativen Sieg: die Parlamentswahl als Abstimmung über das Vertrauen in die Premierministerin.
Helfen will jeder, aber wie ist es, einen geflüchteten Syrer bei sich zu Hause aufzunehmen? Taz-Autor Hannes Koch teilte über ein Jahr lang Küche und Bad. In der taz.am wochenende vom 27./28. Mai erzählt er von dieser Erfahrung. Außerdem: In Polen trainieren immer mehr Paramilitärs für die Verteidigung der Nation. Warum machen die das? Und: Halligalli. Warum das Sgt. Peppers-Album der Beatles ein Meilenstein der Pop-Geschichte ist. Das alles am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo
Mays Glaubwürdigkeitsvorsprung in Sachen Brexit ist unangefochten. Aus dem Referendumswahlkampf 2016 hielt sie sich heraus. Ihr Bestreben, den Brexit jetzt ohne Widerworte umzusetzen, kommt als Ausdruck von Uneigennützigkeit, Pflichtbewusstsein, Respekt vor dem Wählerwillen gut an. Niemand hat im Wahlkampf versucht, Mays Mantra von einer „starken und stabilen Führung“ als Voraussetzung eines erfolgreichen Brexit wirklich zu widersprechen.
Die Entscheidung ist gefallen
Der Versuch der proeuropäischen Liberaldemokraten, mit einer Pro-EU-Haltung zu punkten, ging nach hinten los: Die Briten wollen keinen neuen Brexit-Streit. Die Entscheidung ist gefallen, jetzt soll man sie umsetzen, und in allen politischen Lagern trauen die Leute May zu, sich am hartnäckigsten und kompetentesten für britische Interessen in Europa einsetzen zu können.
Wenn aber über den Brexit breiter Konsens herrscht, fällt der Brexit als Wahlkampfthema flach, obwohl er die Begründung für die Wahl ist. Damit rücken andere Themen in den Blickpunkt, und da steht die Sicherheitspolitikerin May plötzlich wacklig da: Pflegenotstand, Erbschaftsteuer, Schulpolitik.
Es geht ganz banal um britische Innenpolitik
Und mit dem Anschlag von Manchester gibt es wieder ein neues Thema – aber es führt nicht zum Brexit zurück, sondern noch weiter weg. In Sachen Terrorbekämpfung und Geheimdienstarbeit spielt der EU-Austritt keine Rolle, denn da soll die Kooperation zwischen Großbritannien und der EU unvermindert weitergehen. Es geht wieder ganz banal um britische Innenpolitik – und nicht um die Agenda, um die herum May ihren Wahlkampf aufgebaut hat.
Mit dem faktischen Ausnahmezustand auf Londoner Straßen geht der Ausnahmezustand in der britischen Politik zu Ende. Die Phase, in der Europa alles dominierte, ist vorbei. Noch vor dem formalen Brexit, also dem Austritt Großbritanniens aus der EU, kommt der mentale Brexit, also die Loslösung der britischen politischen Debatte von der Fixierung auf Europa. Je ausschließlicher Theresa May für sich mit dem Brexit-Thema wirbt, desto mehr Wähler fragen sich, ob diese Premierministerin auch für die anderen Themen die Richtige ist.
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