Kommentar Wahl in Chile: Die Diktatur wirkt nach
Vor der Stichwahl wird sich Chile polarisieren. Zur Disposition steht das eigentliche Erbe der Pinochet-Jahre: die neoliberale Ökonomie des Landes.
E s wird ein Monat der scharfen Polarisierung werden, der Chile jetzt bevorsteht. Am 15. Dezember werden sich in der Stichwahl um die Präsidentschaft die Sozialistin Michelle Bachelet und die Arbeitsministerin der derzeitigen Rechtsregierung, Evelyn Matthei, gegenüberstehen. Nicht nur ihre Biografien könnten unterschiedlicher nicht sein.
Wenige Monate, nachdem Chile des 40. Jahrestages des Putsches gegen die gewählte sozialistische Regierung Salvador Allendes gedacht hat, steht das eigentliche Erbe der Pinochet-Diktatur erneut zur Wahl. Unter Pinochet war der Sozialstaat abgeschafft und eine radikale Umverteilung der Verteilungs- und Besitzverhältnisse von unten nach oben durchgesetzt worden. Chile hat sich politisch weitgehend demokratisiert – doch das Wirtschaftsmodell der Diktatur ist noch immer unangetastet. Im Ergebnis ist Chile heute eines derjenigen Länder, das trotz lang anhaltenden stabilen wirtschaftlichen Wachstums eine der größten Gerechtigkeitsscheren der Welt aufweist.
Schon 2006 war Michelle Bachelet nach einem Wahlkampf Präsidentin geworden, in dem sie versprochen hatte, diese Lücke zu schließen. Doch aus der angekündigten Reformagenda wurde während ihrer ersten Präsidentschaft – fast – nichts. Seither sind die sozialen Proteste im Land stärker geworden, die Studierendenbewegung hat im Bildungssektor Reformen angemahnt und damit viel Bewegung auch in anderen Bereichen angestoßen. Nur: Das Wahlergebnis vom Sonntag zeigt, dass Chile von einer riesigen gesellschaftlichen Mehrheit für linke Reformen weit entfernt ist.
Bachelet hat vermocht, sich trotz ihrer enttäuschenden ersten Amtszeit erneut als Hoffnungsträgerin für Reformen zu präsentieren. Gewinnt sie im Dezember die Stichwahl, wird das knapp sein. Tut sie, wofür sie gewählt wird, wird sie nicht die „Präsidentin aller Chilenen“ sein. Daran aber, wieviel sie tatsächlich verändern kann, wird zu bemessen sein, wie weit Chile auf dem Weg ist, die Diktatur wirklich hinter sich zu lassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid