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Kommentar Unsinnigkeit guter VorsätzeLob des Exzesses

Erik Peter
Kommentar von Erik Peter

Die neoliberale Selbstoptimierung führt geradewegs in die Hölle. Hören wir auf, uns für andere zu verändern – und zelebrieren den Moment.

Noch ein Bier. Noch einen Schnaps. Foto: dpa

W eniger, gesünder, motivierter: Das neue Jahr wird für die meisten Menschen beginnen wie jedes andere zuvor. Mit guten Vorsätzen. Endlich das Rauchen aufgeben, weniger trinken, abnehmen und am besten ganz auf Fleisch verzichten, im Job vorankommen, häufiger die Familie besuchen – so lauten die Klassiker der Selbstkasteiung. Doch ihnen allen ist eines gemeinsam: Sie machen das Leben ärmer, weniger lebenswert. Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Absichten.

Der beste Abzweig von diesem Irrweg ist der Exzess, der hemmungslose Taumel ohne Skrupel und schlechtes Gewissen. 2016 wird nur dann ein gutes Jahr, wenn wir uns von allen scheinheiligen und auferlegten Zwängen befreien, den neoliberalen Selbst­optimierern so richtig in die Suppe spucken. Der Homo oeconomicus gehört beerdigt – es lebe der Hedonismus!

Seien wir doch ehrlich: Die dauerhafte Selbstbeschränkung dient gar nicht uns selbst, sondern stets den anderen. Wir wollen dem Partner gefallen, für den Chef mehr leisten, Bekannte beeindrucken. Wieso? Ja, wieso nur? Die Stimme der Vernunft ist keine, die aus unserem Inneren spricht, sie ist die Dauerbeschallung um uns herum. Das ewige Lied der Leistungsgesellschaft. Nicht umsonst sind die allermeisten „guten Vorsätze“ spätestens im Februar wieder vergessen; es sind nicht die unseren. Übrig bleibt das Gefühl, versagt zu haben. Oder noch schlimmer: andere enttäuscht zu haben.

Machen wir uns also das Leben wieder angenehm. Ergreifen wir die schönen Momente und zwingen uns zum Verweilen. Das nächste Mal nachts in der Kneipe mit guten Freunden, wenn die Stimmung intensiv und die Geborgenheit groß ist, die Uhr gleich eins schlägt und der Wecker in sechs Stunden klingelt, sich das schlechte Gewissen meldet und der Gedanke „Ich muss doch morgen arbeiten“ Raum ergreift, gehen wir einfach zur Bar und sagen: Noch ein Bier. Noch einen Schnaps. Bitte.

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Erik Peter
Politik | Berlin
Redakteur für parlamentarische und außerparlamentarische Politik in Berlin, für Krawall und Remmidemmi. Schreibt über soziale Bewegungen, Innenpolitik, Stadtentwicklung und alles, was sonst polarisiert. War zu hören im Podcast "Lokalrunde".
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11 Kommentare

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  • Früher - in jungen Jahren (höhöhö) - habe ich guten Vorsätzen auch nichts abgewinnen können. Sie wurden in einer Sektlaune während der Party beschlossen und waren Tags drauf schon wieder vergessen. Seit 2015 ist das anders. Mein Vorsatz war lebensrettend. http://schwarzer-punkt.blogspot.de/2016/01/gute-vorsatze-sinnvoll-oder-quatsch.html

  • Gute Vorsätze: was heißt schon "gut"? Für wen?

     

    "Noch ein Bier. Noch einen Schnaps. Bitte."

    Alkohol zu konsumieren ist allerdings überhaupt kein Zeichen von Freiheit, Zugehörigkeit, Geborgenheit oder Unabhängigkeit. Sondern oft genug ein gefährliches Symptom und eine Aufforderung. endlich erwachsen zu werden und aufzuarbeiten http://www.rowohlt.de/taschenbuch/ursula-lambrou-familienkrankheit-alkoholismus.html

    • @Angelika Oetken:

      Genau darum geht es doch: Genussmittel werden verteufelt. Ohne den individuellen Einzelfall zu betrachten.

      Wer um 1 Uhr noch ein Bier trinkt, gilt gleich als schwerer Alkoholiker und gehört in Behandlung. Um dann zu einem funktionierenden Mitglied der Leistungsgesellschaft umgepolt zu werden (umschrieben mit "Erwachsenwerden").

      Dem Individuum wird kein Entscheidungsspielraum über die eigene Lebensform zugebilligt. Alles, was der perfekten Funktionalität von Körper und Geist nicht zuträglich ist, hat zu unterbleiben, ja darf nicht einmal wohlwollend betrachtet werden.

      Essen und Trinken werden zur bloßen Nahrungszufuhr reduziert, natürlich müssen sie zweckgerichtet sein, so wie auch das ganze restliche Leben. Dagegen wird jedes Mittel, den Körper funktionsbereit zu halten, als moralisch wertvoll betrachtet, das Gegenteil von Genuss ist also immer "gut". Wobei das nei näherer Betrachtung absurd ist. Beispiel Sport: Es ist sinnvoll, mit Körperkraft etwas zu bauen oder zu transportieren, aber wozu ist Joggen nutze oder Training an Fitnessgeräten?

      • @Läufer:

        "Alles, was der perfekten Funktionalität von Körper und Geist nicht zuträglich ist, hat zu unterbleiben, ja darf nicht einmal wohlwollend betrachtet werden."

         

        Wenn Sie sich gern selber schädigen und das auch noch als Privileg betrachten - bitte schön! Es gibt ne Menge Leute, die davon profitieren und alles andere als interessiert daran sind, daß Sie einen klügeren Weg einschlagen.

         

        Übrigens: Wer schon mal die Erfahrung richtig guter vegetarischer Ernährung gemacht hat - und das kopnsequent über einen längeren Zeitraum, nicht nur ein mal zum Probieren oder als Alibi im indischen Restaurant - der weiß, dass Fleisch im Speiseplan überflüssig ist und der "Genuss" toten Proteins eine Illusion.

         

        Wozu Sport gut ist? Ganz einfach: Der menschliche Körper ist, wie der anderer Säugetiere, auf Bewegung ausgelegt. Wenn er nicht bewegt wird, geht er vorzeitig kaputt. Salopp gesagt: Wer rastet, der rostet. Nun, natürlich dürfen Sie sich frei entscheiden, zu rosten. Das schlechte Gewissen darüber müssen Sie aber nicht denen vorwerfen, die Ihnen nur die Wahrheit sagen.

         

        Im Übrigen geht es immer auch darum, daß andere unter dem persönlichen Konsum nicht leiden sollen - auch nicht die armen Tiere in der Massenhaltung und -schlachtung.

  • "Endlich das Rauchen aufgeben, weniger trinken, abnehmen und am besten ganz auf Fleisch verzichten, im Job vorankommen, häufiger die Familie besuchen - so lauten die Klassiker der Selbstkasteiung. "

     

    Nö. Weiterhin schön brav morgens um 6:00 in überfüllten U-Bahnen zum Job trotten, sich mit Koffein und Nikotin aufs geforderte Leistungslimit pushen, dem Chef in den Allerwertesten kriechen, sich Tag für Tag den grauen Büroalltag zwischen Betonwänden schöndenken, während draußen die Sonne scheint, der Wind spielt, die Vögel zwitschern und alles Leben danach ruft, seine Zeit in Freiheit und Unabhängigkeit zu verbringen - DAS nenne ich Selbstkasteiung. Fleisch, Alk, Zigaretten: Sind doch nicht mehr als billige Trostpflaster für ein vergeudetes Dasein, so, wie man das quengelige Kind mit einem Lolli zufriedenstellt.

  • Wenn der Wecker in sechs Stunden klingelt und es ist schon eins ist es in fast allen Fällen die beste Entscheidung spornstreichs nach Hause zu gehen und schnellstmöglich noch eine ordentliche Runde zu ratzen.

     

    Man verpasst zu 98% der Fälle in der Kneipe auch nichts mehr da der Moment in dem "die Stimmung intensiv" ist hat ja dann bereits seinen Höhenpunkt erreicht und flaut dann ab während man in einer neuen Runde festhängt, die Leute meist nur noch besoffener werden und dem Moment nachtrauert in dem man noch einen anständigen Abgang hingekriegt hätte.

     

    Das man das in jungen Jahren nicht einsieht ist ein Recht der Jugend.

  • Die Selbstbeschränkung dient nur den anderen???

     

    Seit ich Sport treibe, bin ich weniger krank. Seit ich beim Feiern nicht mehr exzessiv trinke, kriege ich a) mehr mit vom Abend und b) habe noch was vom Sonntag.

     

    Oder meint der Autor etwa, man soll nicht mehr auf den Weekend-Trip nach Malle für 49.99 verzichten? Stimmt - dieser Verzicht dient anderen - nämlich der Umwelt. Oder ich betreibe weiter Komasaufen und erhöhe die Krankenkassenprämien anderer.

     

    Selten so einen bescheuerten Kommentar gelesen. Werd erwachsen, Erik!

    • @Blacky:

      "Werd erwachsen, Erik!"

       

      In der Tat: Die heutige Gesellschaft leidet massiv an infantilen Wertvorstellungen. Wer sein Lolli nicht bekommt, stampft trotzig auf den Boden. Meine Suppe ess ich nicht usw.

    • @Blacky:

      Nun ja. Sieht aus, als hätte da mal wieder wer ein neues Wort gelernt. Eins, das gut klingt. Ob es auch was bedeutet, dieses Wort, ist offenbar ziemlich egal.

       

      Der Hedonismus war ursprünglich mal eine philosophische Strömung, die Lust, Freude und die Vermeidung von Schmerz bzw. Leid für menschliche Wesensmerkmale und als solche für besonders wertvoll gehalten hat. Der Umgangssprache allerdings ist das egal. Sie interessiert sich weder für Geschichte noch für Philosophie. So wenig, wie Erik Peter sich dafür zu interessieren scheint. Im alltagssprachlichen Gebrauch wird mit dem Wort Hedonismus schlicht eine egoistische Lebenseinstellung bezeichnet, etwas, was ausschließlich auf den momentanen Genuss gerichtet ist. Wobei Genuss der Einfachheit halber auch gleich noch umfassend und abschließend definiert wird: Genuss ist alles, was verboten ist.

       

      Das ist in sofern ausgesprochen dämlich, als der Mensch sich ja tatsächlich einiges an Freude, Lust und Lebensqualität ruinieren kann, wenn er zum kurzsichtigen Egoisten wird. Ich bin ganz sicher, dass sich Erik Peter irrt. "Die dauerhafte Selbstbeschränkung" kann nicht nur "stets den anderen" dienen, sondern durchaus auch dem, der sie pflegt. Voraussetzung dafür allerdings ist, dass die gute Vorsätze tatsächlich die eigenen sind, nicht irgendwelche abgeschriebenen.

       

      Wer fremder Leute Regeln unreflektiert zu seinen eignen mach, muss sich nicht wundern, wenn er daran scheitert. Ein echter Hedonist, ein Mensch also, der "den neoliberalen Selbstoptimierern so richtig in die Suppe spucken" will, der muss sich schon die Mühe machen, sich selber zu erkunden. Erst dann, wenn er die "scheinheiligen und auferlegten Zwänge" von denen unterscheiden kann, die aus der eigenen Persönlichkeit erwachsen, darf er sich wirklich einen Hedonisten nennen.

      • @mowgli:

        "Genuss ist alles, was verboten ist."

         

        Ich würde es noch erweitern: "Genuss ist alles, was verboten ist und niemandem außer mir selbst nützt."

         

        In Momenten wie diesen wird mir jedes mal klar, wie steil es mit der Gesellschaft bergab geht. Die Menschen werden immer kindischer, hart gesagt: Sie degenerieren und verblöden. Ich möchte auch meinen, dass diese Entwicklung zum guten Teil von der allgegenwärtigen Reklame-Propaganda gefördert wird. Die hat den Egoismus und die Befriedigung infantiler Bedürfnisse schon vor Jahrzehnten zum Nonplusultra menschlichen Strebens erkoren.

      • @mowgli:

        Dem ist nichts hinzuzufügen, Sie treffen den Nagel auf den Kopf, Mowgli!