Kommentar Ukrainekrise: Die Folgen des Fanatismus
Der Westen versus Russland? Das ist zu einfach, die Interessenlage ist vielfältiger. Dies gilt es endlich in den Blick zu nehmen.
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A nfangs ging es auf dem Maidan um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Bekämpfung von Korruption. Auslöser der Proteste war die Weigerung des kleptokratischen Präsidenten Janukowitsch, den Assoziierungsvertrag mit der EU zu unterzeichnen, den er selbst ausgehandelt hatte. Dass er dann doch vor Russland einknickte, lässt ihn schwach erscheinen, aber macht ihn nicht zu einem Knecht Moskaus, wie immer wieder behauptet wird.
Inzwischen geht es nur noch um die Einheit der Nation, und Hass und Halbwahrheiten bestimmen die Wahrnehmung auf allen Seiten. Es scheint, als gäbe es nur mehr zwei Parteien: auf der einen Seite „die Russen“, auf der anderen „der Westen“. Tatsächlich aber existiert ein widersprüchliches Feld aus Akteuren, die je eigene Ziele verfolgen.
Die Wünsche der USA sind nicht identisch mit denen der EU, die Russlands nicht mit denen des „separatistischen Mobs“; und ob Geheimdienste die Strategien ihrer Regierungen verfolgen, ist ohnehin nie gesichert.
Westlicherseits streitet man, ob sich Russland mit Wirtschaftssanktionen in die Knie zwingen ließe oder ob ihm nicht die Eisenfaust gezeigt werden sollte. Auf russischer Seite werden dissidente Stimmen massiv unterdrückt.
Nationalistischer Rausch in Russland
Wer jedoch nach einer friedlichen Lösung sucht, wird um eine sorgfältige Betrachtung unerfreulicher Realitäten nicht herumkommen. Russland hat den Kalten Krieg verloren, die sozialistischen Kulissen sind entsorgt. Das Imperium, das in sowjetischer Zeit vorgab, ein freiwilliger Staatenbund zu sein, hat für diese Täuschung mit seiner Auflösung bezahlt.
Russland konzentrierte sich daraufhin auf Rohstoffexporte und wurde zu einem korrupten Entwicklungsland. Putin ging massiv gegen die demokratische Zivilgesellschaft vor; im Gegenzug ließen sich große Teile der Bevölkerung von einem nationalistischen Rausch erfassen, den die Regierung wiederum seit Jahren fördert und inzwischen nicht mehr kontrollieren kann.
Zugleich aber ist Russland noch immer ein mächtiges Land, dessen strategische Fähigkeiten und Interessen man auch dann nicht ignorieren sollte, wenn man sie für verwerflich hält. Schon die Erwartung, der Kreml werde seinen Flottenstützpunkt auf der Krim freiwillig aufgeben, war naiv. Auch die USA waren niemals bereit, ihren Stützpunkt Guantánamo an Kuba und damit an die Sowjetunion zu übergeben – und was die Kubaner darüber dachten, hat ja niemanden interessiert. Warum also sollte Russland seine Militärpräsenz kampflos preisgeben?
Der Faschismus kam aus dem Westen
Merkwürdigerweise erscheint vielen Russen der Popanz vom „Faschismus“ in Kiew glaubwürdig. Unter ihm verstehen sie aber etwas anderes als die Deutschen: Der Große Vaterländische Krieg der Sowjetunion endete 1945 mit einem Triumph über den aus dem Westen kommenden Hitlerfaschismus. Triumphal hatte schon der Vaterländische Krieg von 1813 geendet, in dem die von Westen her eindringende Armee Napoleons vernichtet wurde.
Der Stolz, Bürger einer Großmacht zu sein, half immer wieder über das Elend des sowjetischen Alltags hinweg. Dieser Bevölkerung muss man erst einmal erläutern, warum der Westen auch recht haben kann, denn in der vorherrschenden Logik bedeutet das die eigene Minderwertigkeit.
Auf der Gegenseite dient „Demokratie“ der Durchsetzung des ukrainischen Volkswillens, „Rechtsstaatlichkeit“ der Durchsetzung ukrainischer Rechte. Westlicher Reichtum werde, so die Hoffnung, das Land wieder auf die Beine bringen. Russland erscheint als die fremde Macht, die das Land jahrhundertelang ausplünderte. Auch der sowjetische Sozialismus gilt hier als russisches Verbrechen.
Vermittelbar sind diese beiden Perspektiven nicht. Jedoch haben Russen und Ukrainer, soweit sie unterscheidbar sind, jahrhundertelang zusammengelebt. Es kam zur kulturellen und sprachlichen Annäherung, man heiratete untereinander.
Diese Entspanntheit scheint erst mal passé. Die Verhärtung ist Folge einer fanatischen Politik – auf allen Seiten.
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