Kommentar Ukraine und der ESC: Kein Signal an Europa
Das Gastgeberland versäumt es, die Show für ein politisches Statement zu nutzen. Die Schuld liegt auch bei der ukrainischen Elite.
E in Eurovision Song Contest hat mehr als 150 Millionen Zuschauer*innen. Jedes Jahr. Und jedes Veranstalterland hat eine eigene These, die es dem Publikum ans Herz legen will. Die Ukraine wollte den ESC unbedingt gewinnen, um in Europa nicht mehr als Appendix Russlands verortet zu werden.
Aber dem Entertainment aus Kiew mit dem Finale am Samstag fehlte es genau daran. Keine Spur davon, dass die Ukraine in irgendeiner Form lockend auf sich aufmerksam gemacht hätte. Dass die Organisatoren etwas in Bild und Ton gesetzt hätten, was signalisiert: Hey, Europa, wir gehören zu euch. Oder dass wenigstens der Spruch auf dem ausgebrannten Kaufhaus am Maidan zur Geltung gekommen wäre: „Freedom is our religion.“
Die Show hätte überall gegeben werden können – dass sie in Kiew angesiedelt war, wurde nicht in einen politischen Kontext gesetzt. Man konnte erahnen: Die Ukraine ist so sehr mit sich selbst – und Russland – beschäftigt, so extrem im Sumpf auch der eigenen Verantwortung verhaftet, dass sie mit dieser Werbeplattform namens ESC kaum etwas anzufangen wusste.
Mag sein, dass die Korruption, der Krieg im Osten der Ukraine, die Migration innerhalb des Landes und die ökonomische Misere schlechthin das Ihre dazu beitragen, „Europa“ vielleicht verheißen, aber nicht verkörpern zu können. Ein Kenner nennt seit seinen Erfahrungen mit dem ESC in der Ukraine diese einen failed state. Das ist übertrieben.
Dass die Ukraine am Ende mit dem Pfund, mit dem zu wuchern gewesen wäre, nichts anfangen konnte, liegt auch an der politischen Elite des Landes. Viele wollten Posten im ESC-Vorbereitungskomitee – aber nichts an Arbeit leisten. Der ESC als Public Viewing Event fiel dem kalten Nieselregen in Kiew zum Opfer? Eine Ausrede, sonst nichts.
Für die Hoffnungslosen bleibt ein Trost: Ukrainer*innen kommen seit voriger Woche visumfrei in den Schengenraum. Viele sagen sich: Nichts wie weg hier.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott