Kommentar Taliban-Angriff in Ghasni: Kaiserfamilie ohne Kleider
Während Taliban eine afghanische Stadt einnehmen, lässt sich Präsident Ghani feiern. Der Angriff ist eine Demonstration der Stärke.
D er Taliban-Angriff auf Ghasni führt gleich in mehreren Dimensionen vor Augen, wie prekär die Situation in Afghanistan ist. Er lässt die afghanische Regierung, ihre Streitkräfte, das Nato-Militär und die Geberländer wie eine ganze Kaiserfamilie ohne Kleider dastehen. Die Taliban haben immer noch fast überall die Initiative: Sie sind in der Lage, selbst Großstädte anzugreifen und sich dort tagelang zu halten. Und das unter den Augen des Nato-Militärs – der Sturm auf Ghasni deutete sich ja seit dem Frühjahr an.
Auch die systematische Schönfärberei des Nato-Militärs wird ad absurdum geführt. Seit Jahren jazzt es angebliche Fortschritte der afghanischen Streitkräfte hoch, die dann der Realität nicht standhalten. Dieser Propagandanebel verbirgt nicht mehr, dass der sogenannte Ausbildungseinsatz in Afghanistan offenbar weitgehend wirkungslos bleibt.
Präsident Ghani ließ sich derweil noch am Sonntag von handverlesenen Jugendvertretern feiern und tat so, als ob er von Ghasni nichts gehört hätte. Man fragt sich langsam, wie stark er noch die Wirklichkeit außerhalb seines verbarrikadierten Palastes wahrnimmt.
Bemerkenswert ist zudem, dass der Angriff stattfand, nachdem US-Vertreter in Usbekistan Taliban zu Direktgesprächen getroffen hatten – nach Jahren der Funkstille. Dabei geht es auch um einen Plan für den Abzug der westlichen Truppen. Mit Blick darauf war Ghasni eine Demonstration der Stärke. Zudem wollen die Taliban wohl einen Keil zwischen Washington und Kabul treiben. Trump will bekanntlich Afghanistan am liebsten hinter sich lassen, so schnell wie möglich, und wird dabei wohl auch auf Ghani keine größere Rücksicht nehmen, als dass dessen Regierung nicht zusammenbrechen darf – und damit das Scheitern auch der USA offenbaren.
Schließlich macht der Angriff auf Ghasni auch deutlich, auf welch tönernen Füßen die Lageeinschätzung der Bundesregierung steht – vor der für heute Abend geplanten 15. Sammelabschiebung nach Afghanistan.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“