Kommentar „Strom-Maidan“: Elektrisiertes Armenien
Die Regierung reagiert mit Gewalt auf Menschen, die gegen finanzielle Einschnitte demonstrieren. Das ist nicht ohne Risiko.
![In Jerewan schießt ein Wasserwerfer auf sitzende Menschen. In Jerewan schießt ein Wasserwerfer auf sitzende Menschen.](https://taz.de/picture/467454/14/15062606_armenien_dpa.jpg)
N a bitte, geht doch! Schon mehrere Tage in Folge protestieren in Jerewan und anderen Städten Armeniens Tausende gegen die Regierung. Waren es vor zwei Jahren wahnwitzige Bauprojekte in der Innenstadt Jerewans und Fahrpreisverteuerungen für öffentliche Transportmittel, welche die Volksseele kochen ließen, treibt diesmal eine Erhöhung der Strompreise um 16 Prozent die Menschen auf die Straße.
Aus verständlichen Gründen: Viele Armenier wissen schon jetzt nicht, wie sie wirtschaftlich über die Runden kommen sollen. Und der Beitritt des verarmten Landes zu der von Russland dominierten Eurasischen Union Anfang dieses Jahres hat sich bislang alles andere als segensreich erwiesen. Im Gegenteil: Die Auswirkungen der westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Russland wegen des Ukraine-Krieges treffen auch die Südkaukasusrepublik mit voller Härte.
Und wie reagiert die Staatsmacht auf die Unmutsbekundungen? Sie lässt Demonstranten zusammenknüppeln und festnehmen, wobei sie sich mit besonderer Brutalität an Medienvertretern abarbeitet. Hinzu kommt noch, dass einige Abgeordnete und Regierungsvertreter das aus Russland sattsam bekannte Mantra nachbeten, hier habe wohl wieder einmal der Westen seine Finger im Spiel.
Doch Präsident Sersch Sarsjan sollte gewarnt sein. Diese Proteste gehen weit über das Soziale hinaus. Sie richten sich auch gegen einen durch und durch korrupten Regierungsapparat. An dessen Spitze steht mit Sarsjan ein Mann, der sich durch eine Verfassungsänderung als künftiger Regierungschef auch fortan Macht und Einfluß sichern will. Und die Proteste richten sich gegen Russland, das die Stromversorgungsnetze kontrolliert und damit in den Augen vieler Armenier für die jüngesten Preiserhöhungen verantwortlich zeichnet.
Ob die Bewegung eine Eintagsfliege bleibt oder sich verstetigt, ist derzeit schwer abzuschätzen. Vor allem aber jungen Leuten, die ob mangelnder Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten immer ungeduldiger werden, ist ein gewisses Beharrungsungsvermögen zuzutrauen. Schon jetzt ist, in Anlehnung an das Beispiel Ukraine, von einem „Strom-Maidan“ die Rede. Sollte der tatsächlich kommen, dann könnte auch in Armenien (fast) alles möglich werden.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!